Ein gemeinsames Foto von
Mathieu van der Poel und
Jonas Vingegaard zu finden, erweist sich als überraschend schwierig – ein Umstand, der sinnbildlich für die Wahrnehmung der beiden Topstars im modernen Radsport steht. Während der niederländische Allrounder breite Anerkennung erfährt, sieht sich der dänische Tour-de-France-Sieger immer wieder mit Kritik konfrontiert – obwohl beide eine nahezu identische Strategie verfolgen: das Minimum fahren, um das Maximum zu erreichen.
Der moderne Rennkalender – gezielte Selektion statt Rundumschlag
Seit den Zeiten von Miguel Induráin gilt im Profiradsport weitgehend die Maxime: Wer die Tour de France gewinnen will, muss seine gesamte Saison darauf ausrichten. Einwöchige Etappenrennen zur Formfindung, gezielte Vorbereitung, wenig Ablenkung durch Klassiker oder andere Grand Tours. Jonas Vingegaard folgt diesem Muster – wie zuvor Chris Froome – konsequent.
Tadej Pogacar hingegen stellt diese Logik in Frage: Er fährt den Giro, jagt Monumente und ignoriert bewusst das Dogma des „Tour-zentrierten“ Kalenders. Dies bringt ihm Bewunderung – und führt gleichzeitig dazu, dass Vingegaards klassischer Ansatz von Teilen der Radsportfans skeptisch beäugt wird.
Van der Poel: Ein Monument-Spezialist mit minimalistischer Planung
Auf den ersten Blick steht Mathieu van der Poel für das Gegenteil. Doch auch er reduziert seinen Rennkalender auf das Wesentliche – mit einem klaren Fokus auf die Monumente. Mailand-Sanremo, Flandern-Rundfahrt, Paris-Roubaix: Diese Rennen sind sein Ziel. Alles andere, inklusive vieler Klassiker und großer Landesrundfahrten, spielt eine Nebenrolle.
Van der Poel fährt selektiv. Ob E3, Gent-Wevelgem oder Cyclocross-Wettkämpfe – er wählt flexibel, was in seinen Plan passt. Eine vollständige Klassikersaison wie etwa Mads Pedersen absolviert er nicht. In den Ardennen wird er ebenfalls fehlen. In Relation zu seinem außergewöhnlichen Talent ist seine Bilanz bei Grand Tours zudem überschaubar. Im Vergleich zu Wout Van Aert etwa zeigt sich: Van der Poel punktet gezielt, nicht regelmäßig.
Von Armstrong zu van der Poel – eine neue Fokussierung
In der Ära Armstrong stand die Tour de France im Zentrum der Aufmerksamkeit. Andere Rennen wurden oft als Beiwerk wahrgenommen. Heute erleben wir eine gegenteilige Entwicklung: Für viele Fans zählen fast nur noch die Monumente. Giro und Vuelta drohen, ähnlich wie früher die Frühjahrsklassiker, ins Abseits zu rücken.
Jonas Vingegaard und Mathieu van der Poel verkörpern zwei unterschiedliche Pole – mit dem gleichen Prinzip: Sie fahren selektiv, kompromisslos und fokussiert auf die prestigeträchtigsten Ziele. Ob es sich um das Gelbe Trikot oder einen Pflasterstein-Pokal handelt, der Weg dorthin ist ähnlich.
Fazit: Gleiche Strategie, ungleiche Wahrnehmung
Diese Beobachtung führt zu einer zentralen Frage: Warum wird Vingegaard für seine Fokussierung kritisiert, während van der Poel weitgehend gefeiert wird? Beide stehen für eine neue Generation von Athleten, die mit maximaler Effizienz auf ihre Saisonhöhepunkte hinarbeiten. Zwei Seiten derselben Medaille – und vielleicht auch ein Spiegelbild der selektiven Erwartungen im heutigen Radsport.
Original: Juan Larra