Francesco Moser sieht dunkle Wolken über den langfristigen Grand-Tour-Ambitionen von
Remco Evenepoel aufziehen. Die italienische Legende glaubt, der neue Red Bull-Leader sei bei der
Tour de France bereits von
Tadej Pogacar eingekesselt – und könnte in Italien ein neues Hindernis vorfinden, falls die Gerüchte zu Jonas Vingegaards Programm 2026 stimmen.
In einem aktuellen Interview mit HLN deutete Moser an, dass der Giro als Ausweichroute womöglich nicht mehr die unkomplizierte Lösung ist, die viele erwarten. Er erklärte: „Nun ja, ohne Pogacar ja – aber ich höre aus Giro-Kreisen, dass sie sich den lebhaften Dänen für 2026 bereits gesichert haben.
Jonas Vingegaard, genau. Dann verlagert sich Evenepoels Problem einfach.“
Er betonte zudem, wie wichtig es sei, vor einer Entscheidung auf vollständige Klarheit zu warten: „Warten wir ohnehin auf die Streckenpräsentation. Der Etappenplan wird am 01.12. präsentiert. Merkt euch: In Pogacar-Zeiten schauen viele Fahrer diesem Datum gespannt entgegen.“
Und sollte Pogacar gegen einen Italien-Start entscheiden, könnte der Giro laut Moser dennoch knifflig werden. Er warnt: „Wenn Pogacar den Giro auslässt, dann erscheint der Mexikaner. Wenn einer drahtig und geschmeidig ist, dann Isaac Del Toro. Auch ein schwieriger Kunde für Evenepoel.“
Pogacar das „furchteinflößende Biest“ und eine Tour-Decke für Evenepoel
Für Moser bleibt das Grundproblem dasselbe: die Tour de France und die Präsenz von Pogacar. Sein Urteil ist klar. In den Hochalpen sieht er Evenepoel unterlegen und argumentiert: „Bergauf läuft er in Tadej Pogacar hinein. Er kann ihn nicht schlagen. Ohne dieses furchteinflößende Biest wäre der Toursieg für ihn möglich. Ohne Pogacar sähe die ganze Radsportwelt anders aus.“
Der Italiener geht weiter und zieht eine direkte Linie zwischen Körpertyp und Ergebnis über drei Wochen: „Solange der Slowene da ist, wird Evenepoel die Tour nicht gewinnen. Der Kern des Problems ist: Ihr Landsmann ist kein Kletterer. Er hat nicht die richtige Physis. In Eintagesrennen kann er diese Schwäche kaschieren und an einem Top-Tag mit den Besten mithalten – nicht über eine Kette von Bergetappen.“
Dieses Urteil wurzelt in seiner eigenen Erfahrung im Kampf gegen die Schwerkraft. Im Vergleich mit Evenepoel gibt Moser zu: „Ich hatte dasselbe Problem. Ich konnte bergauf den Schaden begrenzen, musste aber wegen meines hohen Gewichts immer überkompensieren. Evenepoel ist leichter, hat für seine Größe aber einen recht schweren Körperbau. Er kann drei Tage die Zähne zusammenbeißen, aber am vierten schlagen die angesammelten Ermüdungen durch. Die Kraft rinnt plötzlich weg.“
Schwerer Körperbau, dicke Knochen – und Grenzen, die man nicht antrainieren kann
Gefragt, ob Evenepoels kräftiger Körperbau, speziell seine Beine, Teil der Limitierung seien, zögert Moser nicht: „Genau. Und wie ändert man das? Ich hatte damals einen guten Freund, der mich bei jedem Besuch wog und maß und die Zahlen in Tabellen eintrug. Er hat mich ständig wegen meiner schweren Beine genervt: ‚Du musst deine Oberschenkel noch mehr quälen, dieses Gewicht muss dringend runter.‘“
Die Realität sei, so Moser, dass sich manches nicht allein durch Marginal Gains umformen lasse: „Was ich auch auf der Rolle machte, es brachte nichts. Bis Röntgenaufnahmen zeigten, dass ich außergewöhnlich dicke Knochen habe. Das hatte auch einen Vorteil: Ich stürzte so oft wie andere, brach mir aber nie einen Knochen – nicht einmal den kleinsten. Leider kann man das von Evenepoel nicht behaupten.“
Deshalb betrachtet Moser die Grand-Tour-Aussichten des Belgiers ebenso physiologisch wie taktisch. Das Problem sei kein Mangel an Arbeitsethos oder Einsatz, sondern die Ermüdung in den letzten Tagen von Mehrfach-Bergblöcken – und die Tatsache, dass Pogacar in seinen Augen ein Niveau setzt, das Evenepoel „nicht schlagen kann“.
„Bestialisch stark“ und „ein Flugzeug“ – warum Moser Evenepoel trotzdem bewundert
Das heißt nicht, dass Moser Evenepoel unterschätzt. Im Gegenteil: Seine Bewunderung für dessen rohe Kraft und Position ist uneingeschränkt. Mit Blick auf seine Zeitfahrhaltung betont er: „Sie meinen Remco Evenepoel. Natürlich ist er ein aerodynamisches Wunder, aber er ist vor allem eines: stark. Bestialisch stark.“
Anschließend setzt er Evenepoel an die Spitze der Aero-Hierarchie und beschreibt ihn als „ein Flugzeug – vom Typ Concorde“, um zu unterstreichen: „Seine Position ist in der Tat Perfektion. Ich bin ein Bewunderer.“ Diese Kombination aus Kraft und Aerodynamik öffne ihm laut Moser Türen in Bereichen, in denen Terrain und Format ihm eher entgegenkommen.
Sanremo-Fahrplan und die Notwendigkeit, die Explosivität nicht zu „stumpfen“
Eine solche Chance ist Mailand–Sanremo, wo Evenepoel noch nie gestartet ist, nun aber damit liebäugelt. Moser meint, der Belgier müsse es als Präzisionsschlag anlegen. Einerseits erkennt er das Tempodefizit im Drag Race gegen Mathieu van der Poel: „Um auf der Via Roma zu gewinnen, braucht er Geschwindigkeit. Evenepoel ist schneller, als man denkt, aber nicht schnell genug, um Van der Poel im Sprint zu schlagen. Aber sag niemals nie. Es lohnt sich – mit einem scharfen Angriff am Poggio, wie einst Merckx.“
Moser richtet auch an Pogacar wie Evenepoel eine Warnung, im Finale nicht zu früh Zündhölzer zu verbrennen: „Pogacar macht ebenfalls den Fehler, zu früh anzugreifen. An der Cipressa anzugreifen und durchzuziehen, stumpft die Explosivität ab.“ Sein Rezept für Evenepoel ist klar: „Evenepoel muss unbedingt teilnehmen. Sich bis zur Cipressa verstecken, folgen und dann heimlich im Cancellara-Stil an der Corso Cavallotti wegschlüpfen. Ein Sprint-Zeitfahren in der Ebene – dort liegt seine Chance.“
Stundenweltrekord: riesige Gänge, „außergewöhnlicher Luftwiderstandsbeiwert“ – und eine große Schwäche
Wenn es eine Arena gibt, in der Moser Evenepoel fast maßgeschneidert sieht, dann ist es der Stundenweltrekord. Im Attributvergleich sieht der Italiener ihn als herausragenden Herausforderer: „Auf dem Papier ja. Haben Sie seine riesigen Gänge gesehen? Dazu sein außergewöhnlicher Luftwiderstandsbeiwert. Er schlägt Ganna in Zeitfahren immer wieder, auch wenn der Italiener zuletzt schwach wirkte. Evenepoel hat sicher hervorragende Trümpfe, aber einen Nachteil.“
Dieser eine Nachteil ist für Moser entscheidend: „Er hat keine Bahnerfahrung. Ganna, wie Wiggins, ist auf der Bahn groß geworden. Dieser typische flüssige Tritt und das Kurvenfahren sind verinnerlicht. Die Ideallinie halten – das können sie blind. Evenepoel hinkt da hinterher.“
Ob diese Lücke über Rennen oder kluge Vorbereitung zu schließen ist, sei diskutabel: „Es könnte helfen, ist aber nicht zwingend. Die Alternative ist eine sorgfältig geplante, lange Vorbereitung – rechnen Sie mit zwei Monaten. In Grenchen, wo Ganna 56,7 auf einer Bahn in niedriger Höhe fuhr, wird es extrem schwierig.“
Für Moser führt der Weg über Höhe und kluge Terminwahl: „Aguascalientes bietet eine Lösung. Andere Hochgebirgsvelodrome in Mexiko sind verschwunden. Vor allem darf er nichts überstürzen. Wählt einen ruhigeren Herbstzeitraum, in dem sein Versuch volle Aufmerksamkeit erhält. Macht es nicht wie Ganna, der den Tag von Il Lombardia wählte – ein riesiger PR-Fehler.“
Von Tour-Ambitionen, die Pogacar blockiert, über einen Giro, der durch Vingegaard und Del Toro kompliziert werden könnte, bis hin zu Monumenten und dem Stundenweltrekord fällt Mosers Urteil nuanciert, aber unerbittlich aus: Evenepoel ist „bestialisch stark“ und „ein Flugzeug“, doch Biologie, Rivalen und Kalenderwahl könnten entscheiden, ob der neue Red Bull-Leader je die größten Grand-Tour-Trophäen wirklich erobert.