„Es braucht nicht viel, bis alles zum Stillstand kommt“ - Das Vuelta-Chaos zeigt die fragile Zukunft des Radsports, sagt der dänische Ex-Profi

Radsport
Dienstag, 16 September 2025 um 13:34
Jonas Vingegaard
Die Vuelta a España 2025 hätte feierlich enden sollen – mit einer sonnendurchfluteten Prozession nach Madrid, Champagner auf den Teamautos und der Krönung von Jonas Vingegaard nach drei brutalen Wochen. Stattdessen herrschten Stille, Anspannung und tiefe Besorgnis. Wiederholte Protestaktionen zwangen die Organisatoren, die letzte Etappe abzubrechen – ein Vorfall, der dringende Fragen über die Verwundbarkeit des Radsports aufwarf.
Für die Eurosport-Experten Jesper Worre und Matti Breschel waren die Szenen mehr als ein logistisches Chaos. Sie sahen darin einen Weckruf. „Es braucht nicht viel, bis alles zum Stillstand kommt“, sagte Breschel nach dem Rennen, als Bilder von abgestiegenen Fahrern, umgestürzten Absperrungen und hektischen Rennleitern die Bildschirme füllten. „Der Radsport hat Weltkriege und eine Pandemie überstanden. Aber dies ist eine neue, stille und deshalb gefährliche Bedrohung.“

Ein Sport ohne Schutzraum

Im Gegensatz zu Stadion-Sportarten ist der Radsport einzigartig exponiert. Über Tausende Kilometer schlängeln sich die Rennen durch Städte, Berge und Landschaften. Dieser offene Charakter macht seinen Reiz aus – und ist zugleich seine größte Schwachstelle.
Die Vuelta 2025 war mehrfach Ziel von Protestaktionen. Demonstranten blockierten Straßen, rissen Absperrungen nieder und versuchten sogar, ins Feld einzudringen. „Wir haben Leute gesehen, die direkt in die Fahrer laufen wollten“, schilderte Worre live. „Bei 60 km/h kann das tödlich enden.“ Ohne funktionierende Absperrungen gebe es keinen Puffer, ergänzte er: „So lässt sich kein Radrennen organisieren.“

Ein tragisches Ende

Der letzte Tag einer Grand Tour ist traditionell ein Fest: ein Ehrenzug für den Sieger, ein finaler Sprint, ein Moment des kollektiven Feierns. Stattdessen standen die Fahrer am Stadtrand von Madrid ratlos still. Ihre Gesichter zeigten Frust, Verwirrung und Enttäuschung. „Es fühlte sich leer an. Tragisch sogar“, sagte Worre.
Die Organisatoren hatten keine Wahl. Da die Sicherheit nicht mehr gewährleistet war, wurde das Rennen neutralisiert, Siegerehrungen abgesagt. Der Vorhang fiel nicht in Jubel, sondern in ernster Bedacht.
Vuelta protests
Chaotische Szenen in Madrid führten zur Absage der Etappe 21

Die schwierige Rolle der Organisatoren

Renndirektor Javier Guillén und sein Team schoben die Entscheidung bis zuletzt hinaus. Breschel verwies auf die enormen logistischen und wirtschaftlichen Verpflichtungen, die mit einer Grand Tour verbunden sind. „Man kann überall fahren – aber nur, wenn es sicher ist“, betonte er. „Niemand konnte diese Dimension der Störungen vorhersehen.“
Sowohl Breschel als auch Worre stellten sich hinter Guillén: „Sie haben getan, was sie konnten. Doch am Ende war das Risiko größer als das Spektakel.“

Eine existenzielle Frage für den Sport

Die Vuelta 2025 hat mehr ausgelöst als Enttäuschung über eine abgebrochene Etappe. Sie hat eine existenzielle Frage aufgeworfen: Wie kann sich der Radsport in einer zunehmend unberechenbaren Welt schützen?
Während andere Sportarten ihr Umfeld kontrollieren, bleibt der Radsport nahezu schutzlos. Eine kleine Gruppe, ja sogar eine einzelne Person, kann ein Peloton zum Stillstand bringen. „Das ist kein Einzelfall“, warnte Worre. „Die Vuelta hat es kaum bis Madrid geschafft. Das ist nicht normal.“
Die Anfälligkeit des Systems – von Organisatoren über Teams bis zu den Fahrern – ist offensichtlicher denn je. Ob die Dachverbände Antworten finden, bleibt abzuwarten.

Gründe zum Feiern – trotz allem

Trotz des bitteren Endes darf das Sportliche nicht vergessen werden. Jonas Vingegaard krönte sich mit einem souveränen Sieg zum Vuelta-Champion. Mads Pedersen gewann das Punktetrikot mit Konstanz und Kampfgeist. Matthew Riccitello eroberte das Weiße Trikot, Jay Vine das Bergtrikot. „Wir dürfen nicht vergessen, was erreicht wurde“, erinnerte Worre. „Vingegaard gewinnt. Pedersen nimmt das Grün. Das zählt.“
Die wichtigste Botschaft aber war eine andere. Wie Breschel mahnte: „Es braucht nur einen Bruch – und alles bricht zusammen. Das betrifft alle: Organisatoren, Teams, Fahrer, Fans. Die Radsportwelt darf nicht länger wegsehen.“
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