Ernährung im Profi-Peloton – Wie sich die Strategien in den letzten 30 Jahren verändert haben

Radsport
durch Nic Gayer
Sonntag, 07 September 2025 um 7:30
Campenaerts
Die Ernährung von Profi-Radsportlern war schon immer ein entscheidender Faktor für den Erfolg. Doch während in den 1980er- und 1990er-Jahren noch einfache Konzepte wie große Mengen Pasta und Weißbrot als Grundlage galten, hat sich das Wissen rund um Nährstoffe, Energiehaushalt und Regeneration in den letzten drei Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Heute basiert die Ernährung im Peloton auf akribisch geplanten Strategien, die wissenschaftlich begleitet und individuell auf Fahrer, Etappenprofil und Rennphase zugeschnitten sind.
Dieser Wandel ist nicht nur Ausdruck eines besseren Verständnisses der Sporternährung, sondern spiegelt auch die Professionalisierung des gesamten Sports wider. In einem Feld, in dem kleinste Unterschiede über Sieg oder Niederlage entscheiden, ist die Ernährung längst so wichtig geworden wie Aerodynamik, Trainingswissenschaft oder Materialwahl.

Die Ära der „Pasta-Partys“

In den 1990er-Jahren dominierte im Profi-Radsport eine einfache Ernährungsphilosophie: möglichst viele Kohlenhydrate, am besten in Form von Pasta. Am Vorabend großer Etappen oder Klassiker luden Teams ganze Töpfe voll Spaghetti auf die Teller ihrer Fahrer, oft begleitet von Weißbrot, ein wenig Tomatensoße und Wasser. Die Idee dahinter war das klassische „Carboloading“ – also die maximal mögliche Auffüllung der Glykogenspeicher in Muskeln und Leber, um am nächsten Tag ausreichend Energie für lange und intensive Belastungen zu haben.
Das Problem: Diese Ernährung war zwar energiereich, aber einseitig. Proteine und gesunde Fette spielten kaum eine Rolle, Gemüse und Mikronährstoffe waren Nebensache. Zudem führte die Überladung mit einfachen Kohlenhydraten nicht selten zu Verdauungsproblemen und einem trägen Gefühl am Renntag. Auch die Tagesernährung während der Etappen bestand hauptsächlich aus Weißbrot, Bananen, Reiskuchen und süßen Getränken. Funktional, aber wenig ausgewogen.

Die 2000er: erste Professionalisierung

Mit dem Beginn des neuen Jahrtausends setzte ein Umdenken ein. Teams begannen, Ernährungsberater einzusetzen und wissenschaftliche Erkenntnisse stärker in den Alltag zu integrieren. Kohlenhydrate blieben der zentrale Baustein, doch die Qualität rückte in den Fokus. Vollkornprodukte, Reis, Haferflocken und komplexere Kohlenhydratquellen ersetzten zunehmend das monotone Weißbrot.
Auch Eiweiß bekam eine neue Bedeutung. Während es früher fast ausschließlich um Kohlenhydrate ging, erkannte man nun den Stellenwert einer ausreichenden Proteinzufuhr für Regeneration und Muskelreparatur. Proteinshakes, Magerquark oder Fisch wurden feste Bestandteile der Ernährung. Gesunde Fette, etwa aus Nüssen oder Olivenöl, fanden langsam ihren Weg auf den Speiseplan.
Gleichzeitig änderte sich die Versorgung während der Rennen. Gels, Energieriegel und speziell entwickelte Sportdrinks ersetzten nach und nach die improvisierten Reiskuchen und Kuchenstücke. Hersteller von Sportnahrung entwickelten Produkte, die gezielt auf die Bedürfnisse von Ausdauersportlern abgestimmt waren – leicht verdaulich, schnell verfügbar und praktisch in der Handhabung.

Die 2010er: Ernährung als Wissenschaft

In den 2010er-Jahren erreichte die Professionalisierung ein völlig neues Niveau. Teams stellten eigene Koch- und Betreuerstäbe ein, die bei Rundfahrten mobile Küchen mitführten. Statt standardisierter Mahlzeiten erhielten Fahrer individuell abgestimmte Menüs, die auf ihren Energiebedarf, ihre Vorlieben und sogar auf das Etappenprofil zugeschnitten waren.
Ein zentrales Konzept dieser Zeit wurde die Periodisierung der Ernährung. Fahrer aßen nicht mehr jeden Tag gleich, sondern passten ihre Kohlenhydratzufuhr an die Belastung an. An harten Bergetappen oder Zeitfahren gab es kohlenhydratreiche Mahlzeiten, an Ruhetagen oder leichten Etappen reduzierte man die Zufuhr und setzte stärker auf Fette und Proteine. Diese Strategie sollte die metabolische Flexibilität verbessern – also die Fähigkeit des Körpers, je nach Belastung effizient zwischen Fett- und Kohlenhydratverbrennung zu wechseln.
Auch die Rolle der Mikronährstoffe wurde neu bewertet. Antioxidantien, Mineralstoffe und Spurenelemente wie Eisen oder Magnesium rückten in den Fokus, um die Immunfunktion und Leistungsfähigkeit zu erhalten. Smoothies, Gemüsevariationen und frisches Obst wurden feste Bestandteile der Teamküchen.

Ketondiäten, „Train Low“ und moderne Trends

Die letzten Jahre haben eine Fülle neuer Trends hervorgebracht, die teilweise sehr kontrovers diskutiert werden. Dazu gehört die Nutzung von Ketonen – energieliefernden Molekülen, die normalerweise bei sehr kohlenhydratarmer Ernährung im Körper gebildet werden. Einige Teams setzten auf exogene Ketonsupplemente, die in Form von Getränken verabreicht werden. Studien zeigten, dass sie in bestimmten Situationen die Regeneration verbessern könnten, wenngleich die Beweislage uneinheitlich blieb.
Parallel dazu etablierten sich Trainingsstrategien wie „Train Low“ – das gezielte Training mit niedrigen Glykogenspeichern, um den Fettstoffwechsel zu schulen und die Anpassung des Körpers zu intensivieren. Während solche Einheiten im Training gezielt eingesetzt werden, setzen die meisten Teams im Wettkampf weiterhin klar auf eine ausreichende Kohlenhydratzufuhr, um Höchstleistungen zu ermöglichen.
Ein weiterer Trend ist die Individualisierung. Jedes Team arbeitet inzwischen mit Ernährungswissenschaftlern und teilweise mit ganzen Forschungsgruppen zusammen, um den Stoffwechsel der einzelnen Fahrer zu analysieren. Laktattests, Atemgasanalyse und kontinuierliche Glukosemessung liefern Daten, die dann in personalisierte Ernährungspläne übersetzt werden.

Die Bedeutung der Energieversorgung während der Etappen

Die Versorgung während der Rennen selbst ist ein weiterer Bereich, in dem enorme Fortschritte gemacht wurden. Heute berechnen Teams exakt, wie viele Gramm Kohlenhydrate pro Stunde aufgenommen werden sollten – meist zwischen 60 und 100 Gramm, abhängig von Belastung und Dauer. Fahrer nehmen diese Energiemenge in Form von Gels, Getränken und Riegeln auf, die so konzipiert sind, dass sie verschiedene Zuckerarten kombinieren und damit die Aufnahmefähigkeit des Darms maximieren.
Auch die zeitliche Abstimmung ist entscheidend geworden. Während es früher genügte, einfach „zwischendurch etwas zu essen“, erfolgt heute eine minutiöse Planung: schon vor dem Start werden die ersten Gels eingeplant, bei Anstiegen greifen Fahrer zu spezifischeren Produkten, und in der finalen Rennphase wird auf schnelle Energiequellen gesetzt.

Regeneration und Abendernährung

Mindestens genauso wichtig wie die Energiezufuhr während der Belastung ist die Ernährung nach dem Rennen. Direkt nach Zieleinlauf erhalten Fahrer heute Regenerationsshakes, die ein optimales Verhältnis von Kohlenhydraten und Proteinen enthalten, um die Glykogenspeicher rasch wieder aufzufüllen und die Muskelreparatur einzuleiten. Anschließend folgt eine ausgewogene Mahlzeit, die je nach Team meist aus Reis, magerem Fleisch oder Fisch sowie Gemüse besteht.
Im Vergleich zu den einseitigen Pasta-Portionen der 1990er hat sich hier ein vielfältiger Speiseplan etabliert. Fahrer achten verstärkt auf entzündungshemmende Lebensmittel, etwa auf Omega-3-reiche Fische oder Gemüse mit hohem Antioxidantiengehalt. Auch der Schlaf als Regenerationsfaktor wird ernährungsseitig unterstützt – zum Beispiel mit tryptophanreichen Lebensmitteln oder kleinen Protein-Snacks vor dem Zubettgehen.

Die Rolle der Teamköche und Foodtrucks

Eine der sichtbarsten Veränderungen der letzten 15 Jahre ist die Etablierung professioneller Küchenteams. Fast jedes WorldTour-Team reist heute mit eigenen Köchen und mobilen Küchenfahrzeugen, in denen die Mahlzeiten frisch und hygienisch zubereitet werden. Das garantiert nicht nur gleichbleibende Qualität, sondern auch Sicherheit – gerade bei langen Rundfahrten ist die Vermeidung von Magenproblemen ein entscheidender Faktor.
Diese Küchen sind kleine High-Tech-Labore: von Sous-Vide-Garverfahren bis zu präzisen Waagen wird alles genutzt, um Nährstoffe optimal zu erhalten und Mengen exakt anzupassen. Fahrer essen dadurch nicht nur gesünder, sondern auch abwechslungsreicher, was die langfristige Motivation während einer dreiwöchigen Rundfahrt entscheidend beeinflusst.

Psychologische Dimension der Ernährung

Ernährung im Profi-Peloton hat nicht nur eine physiologische, sondern auch eine psychologische Dimension. Gerade auf langen Rundfahrten, wenn die körperliche und mentale Ermüdung zunimmt, können abwechslungsreiche Mahlzeiten eine wichtige Rolle für die Moral der Fahrer spielen. Teams achten deshalb darauf, neben den strikt geplanten, funktionalen Speisen auch Elemente einzubauen, die Freude bereiten und Abwechslung schaffen.
Ein gelegentliches Dessert, frische Früchte oder das Lieblingsgericht eines Fahrers können in einem dreiwöchigen Rennen einen messbaren Unterschied im Wohlbefinden und damit auch in der Leistungsbereitschaft ausmachen. Gleichzeitig müssen Köche und Ernährungsberater einen Balanceakt vollführen: Der Genussfaktor darf die ernährungsphysiologischen Vorgaben nicht untergraben, sondern soll diese sinnvoll ergänzen. Diese Erkenntnis zeigt, wie stark Ernährung auch mit mentaler Widerstandskraft verknüpft ist – ein Aspekt, der in den letzten Jahren zunehmend Beachtung findet.

Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Trends

Neben Leistung und Regeneration spielt inzwischen auch das Thema Nachhaltigkeit eine größere Rolle in der Ernährung von Profiteams. Während früher der Fokus ausschließlich auf Energiedichte und Praktikabilität lag, achten viele Mannschaften heute bewusst auf die Herkunft ihrer Lebensmittel. Regionale Produkte, biologischer Anbau und eine Reduktion von Fleisch zugunsten pflanzlicher Alternativen gewinnen an Bedeutung. Das dient nicht nur der Imagepflege, sondern entspricht auch den steigenden Anforderungen der Fahrer selbst, die zunehmend Wert auf eine gesunde und verantwortungsbewusste Ernährung legen. Gleichzeitig bietet die Integration pflanzlicher Proteinquellen wie Hülsenfrüchte oder Sojaprodukte zusätzliche gesundheitliche Vorteile. In Zukunft dürfte dieser Trend weiter an Fahrt aufnehmen, da auch Sponsoren und Fans verstärkt ein Bewusstsein für nachhaltige Ernährungskonzepte im Spitzensport einfordern.

Fazit: Vom Bauchgefühl zur Wissenschaft

Die Entwicklung der Ernährungsstrategien im Profi-Peloton der letzten 30 Jahre ist ein Spiegel der Professionalisierung des gesamten Sports. Während früher einfache Faustregeln und große Portionen Pasta dominierten, ist Ernährung heute ein hochspezialisierter, wissenschaftlich geplanter Bereich, der in engem Austausch mit Trainingssteuerung, Materialwahl und Wettkampftaktik steht.
Von Pasta-Partys bis Ketondiäten zeigt sich: Ernährung ist längst nicht mehr nur ein Nebenschauplatz, sondern einer der zentralen Erfolgsfaktoren im modernen Leistungssport und nicht zuletzt im modernen Radsport. Die kommenden Jahre werden mit Sicherheit noch weitere Innovationen bringen – sei es durch neue Erkenntnisse in der Stoffwechselforschung, durch digitale Überwachungssysteme oder durch die Suche nach nachhaltigen Ernährungsstrategien, die Leistung und Gesundheit gleichermaßen fördern.
Entscheidend wird sein, die Balance zwischen maximaler Leistungsfähigkeit und langfristiger Gesundheit zu halten. Denn Ernährung im Hochleistungssport darf nicht nur kurzfristig Siege ermöglichen, sondern muss auch die Karriere eines Athleten über viele Jahre hinweg tragen. Gleichzeitig nimmt der Profi-Radsport damit eine Vorreiterrolle ein: Strategien, die heute im Peloton getestet werden, finden morgen bereits Eingang in den Breitensport oder die allgemeine Gesundheitswissenschaft. Damit wird deutlich, dass die Ernährungstrends der Profis nicht nur das Renngeschehen prägen, sondern auch weit über die Ziellinie hinaus Wirkung entfalten.
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