DISKUSSION Giro d'Italia eskaliert, Etappe 16 | Königsetappe wirbelt Klassement durcheinander – Richard Carapaz glänzt, UAE wankt, neue Helden treten hervor

Radsport
Dienstag, 27 Mai 2025 um 23:00
juanayuso
Die erste echte Bergetappe des Giro d’Italia 2025 hat nicht enttäuscht – und das Gesamtklassement komplett durcheinandergewirbelt. Über 200 Kilometer, vier gnadenlose Anstiege und fast sechs Stunden im Sattel bildeten die perfekte Bühne für ein regelrechtes Gemetzel. Und genau das wurde geliefert.
Es war ein chaotischer Tag – nicht der erste dieser Rundfahrt, und hoffentlich auch nicht der letzte. Die beiden Topfavoriten auf den Gesamtsieg vor dem Start haben heute sämtliche Chancen eingebüßt. Primoz Roglic musste nach einem weiteren Sturz das Rennen vorzeitig beenden.
Juan Ayuso brach rund 40 Kilometer vor dem Ziel völlig unerwartet ein und verlor fast 15 Minuten – damit sind seine Hoffnungen auf das Rosa Trikot dahin. Auch Isaac Del Toro hatte am finalen Anstieg schwer zu kämpfen und büßte Zeit auf direkte Konkurrenten wie Richard Carapaz, Simon Yates und Derek Gee ein. Im Gesamtklassement liegen nun drei Fahrer innerhalb von nur 30 Sekunden – Spannung pur.
Für das XDS–Astana-Team gab es dennoch Grund zum Jubeln: Christian Scaroni und Lorenzo Fortunato erreichten gemeinsam das Ziel, nachdem sie den Großteil des Tages in der Ausreißergruppe verbracht hatten. Scaroni sicherte sich dabei den bislang größten Erfolg seiner Karriere.
Zum Abschluss dieses turbulenten Tages haben wir einige unserer Redakteure gebeten, ihre Eindrücke und wichtigsten Erkenntnisse zur Etappe zu teilen.

Pascal Michiels (RadsportAktuell)

Es ist nahezu unmöglich, diese Etappe angemessen zusammenzufassen – so überbordend, so chaotisch, so grandios war sie. Der Giro d’Italia 2025 lieferte an diesem Tag alles, was Radsport ausmacht: Drama, Mut, Einbrüche, Attacken – und am Ende Geschichte.
Zunächst war da ein völlig entkräfteter Primoz Roglic, der nach einem weiteren Sturz aufgeben musste – gebrochen, noch bevor der letzte Anstieg begann. Egan Bernal stürzte ebenfalls, doch der Kolumbianer biss sich durch. Dann Juan Ayuso: sichtlich frustriert wurde er 40 Kilometer vor dem Ziel abgehängt und verlor viele Minuten – ein bitterer Rückschlag. Und während vorne alles implodierte, explodierte hinten plötzlich Giulio Pellizzari – der junge Italiener löste sich mit erschreckender Leichtigkeit aus der Favoritengruppe. Richard Carapaz versuchte später, ihm zu folgen, glaubte wohl, Pellizzari noch einholen zu können – doch er scheiterte. Schließlich war es Simon Yates, der Isaac del Toro nach zähem Ringen distanzieren konnte.
Was diese Etappe so außergewöhnlich machte: keiner der Favoriten versteckte sich. Jeder riskierte, jeder kämpfte. Selbst Derek Gee zeigte sich erneut als ernstzunehmender GC-Faktor – er war der Erste, der auf Carapaz’ Attacke reagierte und bewies damit, dass er an diesem Tag mehr in den Beinen hatte als Simon Yates.
Und Giulio Pellizzari? Für mich die Figur des Tages. Er zeigte Mut, Instinkt und eine gewisse Leichtigkeit – und nicht zu vergessen: Er ist nun frei von Roglic’ Schatten. Wie groß sein Rückstand tatsächlich ist, wird unser GC-Update zeigen.
Dass das alles an einem Tag geschah, an dem drei Italiener die Plätze eins bis drei belegten, verleiht der Etappe eine fast filmreife Dramaturgie. Solche Geschichten kann man nicht erfinden – sie schreibt nur der Radsport.

Víctor LF (CiclismoAlDía)

Eine Etappe wie ein Orkan: unvorhersehbar, brutal, emotional – und mit Abstand die beste des diesjährigen Giro d’Italia. Aufgrund des Streckenprofils war Drama zu erwarten, doch was sich letztlich abspielte, übertraf selbst die kühnsten Erwartungen.
Inmitten des Chaos sorgte Lorenzo Fortunato für einen der nobelsten Momente des Tages. Obwohl er in der Ausreißergruppe zweifellos der Stärkste war, überließ er den Etappensieg seinem Landsmann und Teamkollegen Christian Scaroni – als Anerkennung für dessen aufopferungsvolle Arbeit. Eine Geste, die im modernen Radsport Seltenheitswert hat.
Hinter den beiden XDS-Astana-Fahrern fuhr Giulio Pellizzari auf Rang drei. Seit dem Ausstieg von Primoz Roglic genießt der 21-jährige Italiener deutlich mehr Freiheiten – und nutzt sie eindrucksvoll. Er hat sich in Stellung gebracht, um als bester Italiener in Rom anzukommen. Seine Performance wirft die berechtigte Frage auf, ob hier der nächste Giro-Sieger heranwächst.
Richard Carapaz war einer der großen Gewinner des Tages. Er nahm Simon Yates 42 Sekunden und Isaac Del Toro 1:36 Minuten ab – ein deutliches Zeichen im Kampf um das Maglia Rosa. Auch Derek Gee und Michael Storer bestätigten eindrucksvoll, dass man keine 20 sein muss, um bei einer Grand Tour in die Top 10 zu fahren.
Movistar wurde für seine mannschaftlich geschlossene Leistung belohnt: Jefferson Cepeda fuhr auf Platz sechs, Einer Rubio liegt nun in den Top 10 der Gesamtwertung – eine starke Zwischenbilanz.
Ganz anders sieht es bei UAE Team Emirates aus. Die Mannschaft hätte an diesem Tag fast alles verloren. Zwar bleibt Del Toro im Rosa Trikot, doch der Vorsprung ist geschmolzen. Juan Ayuso hingegen musste sämtliche Ambitionen begraben: Maglia Rosa, Podium, Top 10 – alles weg an einem einzigen Tag.
Ein weiterer großer Verlierer: Antonio Tiberi. Der junge Italiener wurde von seinem 14 Jahre älteren Teamkollegen Damiano Caruso klar distanziert – eine Wachablösung, die (noch) nicht stattgefunden hat.

Rúben Silva (CyclingUpToDate)

Angesichts der schieren Fülle an Ereignissen ist es sinnvoll, diese Etappe Punkt für Punkt aufzuarbeiten:

Ausreißerduell

Ein Hochgenuss. Christian Scaroni ist zweifellos ein starker Fahrer, aber in dieser Form hat man ihn am Berg selten, wenn überhaupt je gesehen. Sein Sieg auf der härtesten Etappe des Giro war nicht nur verdient, sondern womöglich auch karriereprägend.

Primoz Roglic

Sein Ausstieg war nicht überraschend, ein letzter Sturz hingegen schon. Jenseits des reinen Pechs zeigt sich erneut: Roglic hat offenbar Schwierigkeiten im Peloton, insbesondere bei hektischen Situationen und in technischer Hinsicht. Das sagt man ungern über einen dreifachen Vuelta-Sieger, aber es liegt offen zutage – und hat ihm eine weitere Grand Tour gekostet. Dass er zur Tour de France fahren wird, scheint sicher. Doch realistisch betrachtet, ist ein Podiumsplatz kaum vorstellbar. An den Gesamtsieg darf derzeit niemand glauben.

Juan Ayuso

Körperlich und mental am Limit. Die Alarmsignale waren da: Schmerzen nach dem Sturz auf der 9. Etappe, zunehmender Druck, kritische Stimmen und eine Taktik von UAE Team Emirates, die ihm kaum Luft ließ. An einem besseren Tag hätte er heute vielleicht brilliert und wäre die dringend benötigte zweite Karte neben Del Toro gewesen – stattdessen musste er kapitulieren. Seine neue Rolle ist klar: Helfer. Doch die Frage bleibt, ob das Verhältnis zwischen ihm und dem Team nach diesem erneuten Rückschlag unbelastet bleibt.

Isaac Del Toro

Er hat sein wahres Niveau gezeigt. Zwei Wochen lang fuhr er über Erwartung – heute auf Augenhöhe mit ihnen. Eine starke Leistung, aber nicht mehr. Die langen, steilen Anstiege zeigten erste Risse in seinem Profil. Noch ist nichts verloren, aber der Vorsprung auf Yates und Carapaz ist weg. Und mit wachsender Nervosität wird es nicht leichter. Vielleicht kommt er auf leichterem Terrain morgen besser zurecht – aber der mentale Puffer, den er sich aufgebaut hatte, ist verschwunden.
UAE sieht nicht mehr wie ein dominantes Team aus. Sie werden ihre Strategie ändern müssen – mehr Fahrer in die Gruppen, mehr taktische Variabilität – wenn sie dieses Rosa Trikot verteidigen wollen.

Gesamtwertung (GC)

Richard Carapaz fährt mit Leidenschaft, Instinkt und Selbstbewusstsein. UAE hat es versäumt, mehrere Optionen im Klassement zu halten – ein McNulty oder Ayuso hätten als Druckmittel dienen können. So konnten Carapaz und Yates, beide ohne starkes Team im Rücken, frei agieren und Del Toro direkt angreifen. Das Ergebnis: wertvolle Sekunden gewonnen. Carapaz wirkt befreit, selbstsicher – und dürfte ab sofort bei jeder sich bietenden Gelegenheit in die Offensive gehen. Simon Yates ist ebenfalls nicht aus dem Spiel, aber besonders beeindruckt hat Derek Gee. Der Kanadier ist kein Wunderkind, sondern ein Rennfahrer alter Schule – ausdauernd, zäh, taktisch clever. Podium? Möglich. Gesamtsieg? Nicht ausgeschlossen.
Auch Egan Bernal ist noch im Spiel. Seine Angriffe aus der Distanz könnten ihm in den nächsten Tagen die Bühne bieten, um ganz nach vorn vorzustoßen. Giulio Pellizzari wird ebenfalls attackieren – alles andere wäre Verschwendung seiner überragenden Form. Ein Platz neun im Gesamtklassement wäre fast schon ein Understatement.

Fazit

Das war der Giro in Reinform: unberechenbar, roh, fordernd – ein Tag, der in Erinnerung bleibt. Die Tour de France und Vuelta a España sollten sich daran ein Beispiel nehmen: 200-Kilometer-Etappen nach Ruhetagen entfalten ihre volle Wirkung. Die Müdigkeit bringt Emotionen, Fehler, Mut und Überraschungen zum Vorschein – genau das, was den Radsport ausmacht.
Die letzten zwei Etappen boten mehr Spektakel als ganze Wochen mancher früherer Ausgaben. Und alles deutet darauf hin, dass es so weitergeht. Es wird brennen.

Félix Serna (CyclingUpToDate)

Astana liefert – und wie!

Was für ein Auftritt der kasachischen Mannschaft. Ihre bislang ohnehin starke Saison bekommt ein weiteres Glanzlicht, denn mit Christian Scaroni feiern sie einen weiteren Etappensieg und sammeln erneut wertvolle UCI-Punkte. Besonders beeindruckend: Lorenzo Fortunato war der auffälligste Fahrer dieser Giro-Ausgabe, ein permanenter Angreifer – und heute schenkte er den Sieg sogar seinem Teamkollegen. Ein Zeichen von Größe und Teamgeist.
Fortunato hat ohne Zweifel noch eine Etappe in den Beinen. Die restlichen Tage werden extrem anspruchsvoll, und es ist gut möglich, dass weitere Ausreißer zum Erfolg kommen. Kleiner Seitenhieb in Richtung Intermarché–Wanty: Jetzt bloß nicht einschlafen – der Abstiegskampf ist längst nicht entschieden. Picnic, Astana und Cofidis lauern nicht weit dahinter.

UAE: Vom Dominator zur Ein-Karten-Mannschaft

Noch vor wenigen Tagen verfügte UAE Team Emirates über vier taktische Optionen – jetzt ist nur noch eine davon übrig. Die Teamstrategie während des Rennens war fragwürdig, Kritik gab es reichlich: Man setzte zu früh zu stark auf Isaac del Toro und hielt Ayuso und McNulty lediglich als Schattenoptionen im Rennen.
Doch als es in den Bergen ernst wurde, kollabierte das gesamte Konzept. Del Toro war angeschlagen, Ayuso erlebte einen desaströsen Tag. Beide verloren Zeit, einer deutlich mehr als der andere – doch der Effekt ist derselbe: Die Überlegenheit der UAE-Mannschaft ist dahin.

Ayusos Zukunft: Helfer oder Frustfaktor?

Die zentrale Frage: Welche Rolle übernimmt Juan Ayuso nun? Seine Chancen auf die Gesamtwertung sind dahin, sein Gesundheitszustand lässt keinen sofortigen Rückzug vermuten. Doch ausgerechnet er soll sich nun in den Dienst eines jüngeren Teamkollegen stellen – eine Rolle, in der er sich in der Vergangenheit, etwa bei der Tour de France, nie wohlgefühlt hat.
Ein Mentalitätswechsel ist nötig – vom Leader zum Elite-Domestiken. Für das Team wäre das die beste Lösung, vielleicht sogar für Ayuso selbst. Ob er sich darauf einlässt, bleibt abzuwarten.

Gesamtwertung (GC)

Die neue Garde drängt nach vorn Einige Fahrer nutzten diesen Schlüsseltag, um sich in Szene zu setzen – allen voran Giulio Pellizzari. Seine Attacke am Fuß des letzten Anstiegs war beeindruckend, er war der Stärkste unter den Gesamtklassement-Anwärtern. Wäre da nicht der enorme Aufwand im Dienste von Roglic in den ersten zwei Wochen gewesen – Pellizzari hätte realistische Podiumschancen. So bleibt eine Etappe – vielleicht mehr.
Auch Derek Gee und Michael Storer haben ein deutliches Signal gesendet. Beide strahlten heute Selbstvertrauen aus, das Potenzial für lange Solo-Angriffe ist da. Wer sie unterschätzt, macht einen Fehler.
Und Egan Bernal? Trotz eines erneuten Sturzes lieferte er eine kämpferische Leistung ab. Ineos agierte bisher mit dem meisten Mut im Rennen – und Bernal wird bis zur letzten Etappe alles versuchen, um dieses Comeback zu krönen.

Fazit

Das war ein Tag, der den Giro d’Italia in seiner reinsten Form zeigte: offen, unvorhersehbar, voller Emotionen. Es war kein Zufall, dass genau an diesem Tag auch die scheinbar Unantastbaren ins Wanken gerieten. Und genau das macht diese dritte Woche so verheißungsvoll. Es ist alles angerichtet für ein großes Finale.

Ondřej Zhasil (CyclingUpToDate)

Als ich zur Etappenhälfte den Fernseher einschaltete, dachte ich: Wieder einmal eine zähe GC-Schachpartie. Wie falsch ich lag. Die Sonne über Trient war offenbar das Startsignal – und was folgte, war nichts weniger als pures Ciclismo.
Wer dachte, der Giro 2025 würde ein kalkulierter Zweikampf zwischen Primoz Roglic und Juan Ayuso? Falsch gedacht. Beide sind inzwischen aus dem Gesamtklassement verschwunden – der eine durch Aufgabe, der andere durch Einbruch.
Und Isaac del Toro? Viele hielten ihn im Rosa Trikot für unantastbar – doch Richard Carapaz hatte offensichtlich andere Pläne. Wie schon 2019 wurde er unterschätzt. Und wie damals nutzt er seine Chance eiskalt. Spätestens nach seinem Etappensieg in der Vorwoche war klar: Dieser Mann ist gekommen, um den Giro zu holen.
Heute sahen wir viele Gewinner – aber noch mehr Geschlagene. Manche gingen mit gesenktem Kopf, andere mit leerem Blick. Genau das ist es, was wir uns als Fans von einer Königsetappe erhoffen: ein Rennen, das selektiert, belohnt, zerstört – und unvergesslich bleibt.
Und das Beste daran? Drei solcher Etappen stehen noch bevor.
Wer in Rom auf dem Podium stehen wird? Keine Ahnung. Aber eines ist sicher: Derek Gee sollte niemand aus den Augen verlieren. Der legitime Nachfolger von Ryder Hesjedal schreibt gerade sein eigenes Giro-Kapitel – und es ist noch lange nicht zu Ende.
Und Sie? Was denken Sie über das, was heute passiert ist? Hinterlassen Sie einen Kommentar und beteiligen Sie sich an der Diskussion!
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