Die letzte Bergetappe des Giro d’Italia 2025 wurde nicht nur sportlich in Erinnerung behalten – sie hat auch eine Debatte über Ethik, Loyalität und Machtverhältnisse im modernen Radsport ausgelöst. Auslöser: Dries De Bondts offenbar bewusste Unterstützung für
Richard Carapaz am Colle delle Finestre, obwohl beide für unterschiedliche Teams fuhren.
Im Zentrum der Kontroverse steht ein ungewöhnlicher Vorgang. De Bondt, eigentlich Fahrer von
Alpecin-Deceuninck, gab nach dem Rennen offen zu, dass er Carapaz an einem der entscheidenden Anstiege aktiv unterstützt habe – auf Anraten von
EF Education-EasyPost-Sportdirektor Ken Vanmarcke. Hintergrund soll ein mögliches Vertragsinteresse für die Saison 2026 gewesen sein. Ein sportlicher „Vorschuss“, der De Bondt Punkte bei EF einbringen sollte – und Carapaz dem ersehnten Giro-Sieg hätte näherbringen können. Doch letztlich half auch das nicht: Carapaz verlor in der Folgezeit den Anschluss und verpasste das Podium.
Dass solche Formen der stillschweigenden oder taktischen Zusammenarbeit im Peloton nicht neu sind, ist für viele kein Geheimnis. Doch das offene Eingeständnis De Bondts – und die Vermischung von sportlichem Wettbewerb und persönlichem Karrierekalkül – haben die UCI auf den Plan gerufen. Der Weltverband leitete eine Untersuchung ein. Die Rede ist von möglichen Verstößen gegen sportliche Integrität und Wettbewerbsverzerrung.
"Es ist eine Schande"
Der Fall schlägt Wellen – auch im familiären Umfeld der Beteiligten. Sep Vanmarcke, Bruder von EF-DS Ken Vanmarcke und selbst ehemaliger Top-Fahrer, äußerte sich gegenüber Sporza deutlich zur Situation:
„Es ist keine angenehme Situation für meinen Bruder. Man will nicht so in den Medien stehen. Hoffentlich sind sie vernünftig genug und sein Job ist nicht in Gefahr. Es ist eine Schande.“
Für Vanmarcke steht fest: Hier wird übertrieben. Aus seiner Sicht handelt es sich um ein gängiges Phänomen, das unnötig skandalisiert werde:
„Es geht in eine Richtung, die absolut unnötig ist. Das ist schon 300.000 Mal passiert. Kollaborationen gibt es in allen Situationen, auch außerhalb des Rennens. Es ist unmöglich, dass sie (die UCI) damit anfangen. Dann werden sie eine Menge Arbeit haben.“
Zwischen gelebter Praxis und moralischem Dilemma
Der Fall zeigt deutlich die Grauzone, in der sich der Profiradsport bewegt. Dass Fahrer im Rennen taktisch kooperieren – auch teamübergreifend – ist Alltag. Wenn jedoch persönliche Karriereaussichten zur Triebfeder werden, beginnt die Diskussion über Fairness und Loyalität.
Was die UCI letztlich entscheidet, bleibt abzuwarten. Klar ist: De Bondts Offenheit hat eine Tür aufgestoßen, durch die nun viele Fragen drängen. Nicht nur über das Verhalten einzelner Akteure – sondern auch über Strukturen, die solche Situationen begünstigen.