Der vielleicht meistdiskutierte Transfer des Winters 2024/25: Tom Pidcocks Abschied von
INEOS Grenadiers. Es war ein Wechsel, der die Radsportwelt spaltete. Ein zweifacher Olympiasieger, ausgestattet mit einem millionenschweren Vertrag und umgeben von Stars – und doch entschied sich der Brite, das Team zu verlassen und beim deutlich kleineren
Q36.5 Pro Cycling Team einen Neustart zu wagen. Ende 2025 stellt sich die Frage: War dieser riskante Schritt ein Fehlschlag – oder ein Volltreffer?
Wie es zum Bruch kam
Pidcock war seit 2021 Teil des INEOS-Kaders und galt als eines der größten Multitalente seiner Generation. Schon früh feierte er Erfolge in mehreren Disziplinen: Olympisches Gold im Cross-Country 2021 und 2024, Siege bei Strade Bianche, Amstel Gold Race und eine Tour-de-France-Etappe auf der Alpe d’Huez 2022. Doch trotz aller Vielseitigkeit blieb der ganz große Durchbruch im Straßenradsport aus. Die Versuche, in einer Grand Tour auf das Gesamtpodium zu fahren, scheiterten mehrfach.
Bei der Tour de France 2025 sollte sich das ändern. Pidcock wollte eigene Ambitionen verfolgen, musste sich jedoch erneut der Teamtaktik beugen und Kapitän Carlos Rodríguez unterstützen. Der Plan ging schief – Pidcock stieg in der zweiten Woche aus. Hinter den Kulissen war längst klar, dass das Verhältnis zu Teamleitung und Management zerrüttet war. Der Brite wurde kurz darauf überraschend aus dem Kader für Il Lombardia gestrichen, was er mit einem emotionalen Instagram-Post kommentierte. Damit war der Bruch endgültig. Wenig später wurde sein Vertrag aufgelöst, und der Wechsel zu Q36.5 folgte – ein Schritt, den kaum jemand erwartet hatte.
Der Neuanfang
Viele Experten hielten den Wechsel zu einem ProTeam für einen Fehler. Doch Pidcock selbst sah darin eine Chance: weniger Druck, mehr Freiheit und ein Kalender, der auf seine Stärken zugeschnitten war. Schon bei der AlUla Tour zu Beginn der Saison zeigte sich der Erfolg dieses Ansatzes. Pidcock gewann zwei Etappen und holte seinen ersten Gesamtsieg in einem Etappenrennen. Kurz darauf folgten ein Etappenerfolg und Platz drei bei der Ruta del Sol – keine Weltklasse-Konkurrenz, aber genau die Aufbauarbeit, die er brauchte.
Zurück in Europa zeigte sich der 26-Jährige weiter formstark. Bei Strade Bianche wurde er Zweiter hinter Tadej Pogacar, bei Tirreno-Adriatico Sechster in der Gesamtwertung. Auch in den Ardennen bestätigte er seine Konstanz mit Rang drei beim Flèche Wallonne und Top-Ten-Platzierungen bei Amstel Gold Race und Lüttich-Bastogne-Lüttich.
Der Giro bringt Ernüchterung
Beim Giro d’Italia wollte Pidcock seine Ambitionen als Rundfahrer unter Beweis stellen. Doch das Unterfangen scheiterte an fehlender Vorbereitung und überzogener Erwartungshaltung. Ohne Höhenlager und nach einem intensiven Frühjahr fehlte ihm am Ende die Frische. Ein Sturz auf der Schotteretappe, auf der er zu den Favoriten zählte, kostete ihn wertvolle Zeit. Platz 16 in der Gesamtwertung war das ernüchternde Ergebnis eines Rennens, das mehr Lehren als Erfolge brachte.
Der Durchbruch bei der Vuelta
Im Spätsommer kam die Antwort. Nach einer gezielten Vorbereitung startete Pidcock bei der Vuelta a España in bestechender Form. Schon auf der Etappe zur Estación de Valdezcaray konnte er mit Jonas Vingegaard und João Almeida mithalten. Wenige Tage später attackierte er auf der 11. Etappe erneut – bis Demonstranten das Rennen unterbrachen. Seine Leistungen in den Bergen beeindruckten dennoch das gesamte Feld. Am Ende stand Pidcock auf dem Podium: Dritter der Gesamtwertung, vor erfahrenen Rundfahrtspezialisten. Ein symbolischer Durchbruch für den Mann, der jahrelang als ewiges Talent galt.
Vielseitig wie kaum ein anderer
Nach der Vuelta blieb Pidcock auf hohem Niveau. Bei den Weltmeisterschaften in Kigali fuhr er in die Top Ten, beim Giro dell’Emilia wurde er Zweiter. Es folgten sechste Plätze bei Il Lombardia und den Gravel-Weltmeisterschaften in Limburg. Spätestens da war klar: Der 26-Jährige hatte nicht nur seine Form, sondern auch seine Freude am Radsport zurückgewonnen. Seine Saison war ein Paradebeispiel für Vielseitigkeit – und für die Kunst, mit Risiko neue Stärke zu finden.
Fazit: Ein riskanter Schritt mit großem Gewinn
Pidcocks Wechsel zu Q36.5 war ein Wagnis, das sich ausgezahlt hat. Anstatt in der Hierarchie eines Großteams festzustecken, fand er in einem kleineren Umfeld Freiheit, Verantwortung und Motivation. Er gewann Etappen, Podiumsplätze – und vor allem das Vertrauen in die eigene Stärke zurück.
Ob der Schritt ihn langfristig in die Riege der Grand-Tour-Favoriten führt, bleibt abzuwarten. Doch eines steht fest:
Tom Pidcock hat mit seinem Mut zum Neuanfang den wichtigsten Sieg seiner Karriere errungen – den über sich selbst.