„London 2012 bleibt mein größter Moment“ – Sir Bradley Wiggins über die Fahrt seines Lebens, die gnadenlose Logik der Tour und seinen inneren Frieden nach den Podiumsplätzen

Radsport
Montag, 03 November 2025 um 21:30
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Sir Bradley Wiggins bezeichnet sein olympisches Gold bei den Spielen in London 2012 immer noch als den entscheidenden Moment seiner Karriere – nicht Paris, nicht die Podiumsplätze im Gelben Trikot, sondern der Tag, an dem er einen Weg aus seiner Kindheit in eine der ikonischsten Szenen des britischen Sports verwandelte.
Ein Jahrzehnt nach seinem Rücktritt sprach Großbritanniens erster Tour de France-Sieger mit TalkSport über die extremen Anforderungen der größten Etappen im Radsport und die ruhigeren, weniger glamourösen Aufgaben, die nach dem Ziel auf die Fahrer warten.
Wiggins beschrieb das olympische Zeitfahren als den Tag, an dem alles zusammenpasste: „London 2012 wird immer mein wichtigster Moment sein. Zehn Tage nach meinem Tour-de-France-Sieg zu gewinnen – und dann nach London zurückzukommen… Ich bin nur zwei Meilen von hier in Kilburn aufgewachsen.“
Für ihn steht auch heute nicht die Medaille im Vordergrund, sondern die Geschichte dahinter: ein Kind in Lycra in den frühen 90er-Jahren, aufgewachsen in einer Siedlung im Westen Londons, das sich schon damals vorstellte, durch die Welt zu fahren, die es eines Tages erleben würde. „Radfahren war für mich eine Flucht“, sagt Wiggins, „und dieser Tag war 20 Jahre nach meinem ersten Versuch, in Lycra aus dieser Siedlung herauszukommen.“

Eine dreiwöchige Gleichung, die nur wenige lösen können

Die Tour de France sei kein Glanzstück, sondern eine Prüfung von Disziplin, Gewicht und Arithmetik über 21 Tage, betonte Wiggins. Für ihn sei die Tour weniger Spektakel als Kalkül: „Bei der Tour fährst du eine Stunde am Stück die Berge hoch. Wenn du ein Kilo schwerer bist als sonst… bei jeder einstündigen Bergfahrt über drei Wochen summieren sich die Minuten. Es kann so viel schiefgehen – krank werden, stürzen, Reifenschäden – und du hast acht Teamkollegen, die all das möglich machen.“
Auch bei den Olympischen Spielen in London 2012 hielt er sich trotz des Drucks der Nation von Emotionen fern: „Wir betrachten die 50 Minuten nicht als Ganzes, sondern teilen sie in Abschnitte ein – die ersten 13 Kilometer, dann die nächsten, dann die weiteren. So nimmt man die Emotionen heraus. Wenn du die Zeitkontrollen hörst – ‚du bist 20 Sekunden voraus, 25 Sekunden voraus‘ – denkst du nicht ‚ich werde hier olympisches Gold gewinnen‘. Du führst es einfach aus.“
Parallel zu diesem mentalen Prozess entstand ein Umfeld, das eine ganze Generation prägte. „Wir hatten einen großartigen Jahrgang – großartige Athleten, großartige Trainer, eine Siegermentalität. Lotteriemittel ermöglichten es den Athleten, Vollzeit zu trainieren, und das Velodrom von Manchester wurde zu einem Kompetenzzentrum. Das war der Ausgangspunkt.“
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Wenn die Rüstung abfällt

Der Ruhestand brachte keine Erleichterung – er zerstörte die Ordnung, die sein Leben zusammengehalten hatte. Wiggins sprach unverblümt darüber, wie die Persona, die ihn durch seine besten Jahre getragen hatte, etwas wurde, das er ablegen musste:
„Bradley war nicht genug… Ich hatte ein Bild von mir selbst geschaffen. Ich spielte eine Rolle und versteckte mich hinter diesem Schleier. Ich habe nie etwas gefunden, das mir die gleiche Flucht vor meiner Vergangenheit und meinen Dämonen ermöglichte. Innerhalb von drei Jahren nach meinem Rücktritt geriet ich in eine Drogenabhängigkeit. In vielerlei Hinsicht war ich ein funktionierender Süchtiger – ich ging zur Arbeit, überstand sie, aber sobald die Arbeit vorbei war, isolierte ich mich.“
Heute nutzt er dieselbe Einstellung, mit der er bei Tour de France und Olympischen Spielen Gold gewann, als Antrieb für eine neue Mission: „Ich trainiere immer noch jeden Tag wie ein Profisportler – das ist das Einzige, was mir in meinem Leben gut tut. Das Training des Tages hat Priorität, und alles andere dreht sich darum.“
Doch die Rituale des Radsports sind heute Werkzeuge, keine Identität mehr. Die großen Leistungen gehören der Vergangenheit, die persönliche Arbeit geht weiter: „Wenn ich über meine Erfolge spreche, spreche ich auch über meine Misserfolge… Ich bin dankbar für das Blatt, das mir gegeben wurde, denn sonst wäre ich nicht der Mensch, der ich heute bin.“

Das Erbe annehmen und sich nicht dahinter verstecken

Was früher als Druck empfunden wurde, fühlt sich heute wie eine Verbindung an. Die Anerkennung der Fans, die ihn einst vielleicht verunsicherte, nimmt er jetzt anders auf:
„Die Leute kommen jeden Tag zu mir und erzählen, woran sie sich erinnern – an ein bestimmtes Rennen oder einen besonderen Moment – und ich danke ihnen, denn das bedeutet mir sehr viel. Wirklich.“
Ein Jahrzehnt nach London sind Wattzahlen und Medaillen nur noch Geschichte. Jetzt zählt, im Alltag so zu agieren, wie er es auf dem Rad tat: konsequent, ehrlich und ohne Maske.
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