Über zwei Jahrzehnte lang brachte ITV die
Tour de France in Millionen britische Haushalte. Am Sonntag endete diese Ära. Der Sender verabschiedete sich mit einer emotionalen Hommage voller Erinnerungen, Dankbarkeit und großer Gefühle. Doch der Abschied wirft Fragen auf: Wie geht es weiter – für die TV-Berichterstattung und für den britischen Radsport?
40 Jahre kostenlose Tour de France im britischen Fernsehen sind vorbei
Seit 2002 war ITV die Heimat der Tour de France im frei empfangbaren Fernsehen. Zuvor hatte Channel 4 das Rennen seit 1985 übertragen. Damit erlebte das britische Publikum fast vier Jahrzehnte lang das größte Radsport-Event der Welt ohne Bezahlschranke. Für viele Fans gehörten der vertraute Soundtrack, die Stimmen der Kommentatoren und das gelbe Peloton auf den sonnenüberfluteten französischen Straßen zum festen Klang des Sommers.
Doch dieser einfache Zugang ist Geschichte – und mit ihm verschwindet ein großer Teil der Sichtbarkeit des Sports.
Die Kostenexplosion: Von 6,99 auf 33,99 Pfund im Monat
Die Folgen sind deutlich – und teuer. Als Eurosport Anfang des Jahres zu TNT Sports wechselte, begann eine aggressive Preiserhöhung. Was einst 6,99 £ pro Monat kostete, liegt inzwischen bei 30,99 £. Nur einen Tag nach ITVs Abschiedssendung folgte die nächste Erhöhung auf 33,99 £. Für Radsportfans, die sich nicht für Fußball oder Rugby interessieren, bedeutet das: Über 400 Pfund pro Jahr nur für ihren Lieblingssport.
„Es bricht einem das Herz, dass es nicht mehr frei ausgestrahlt wird“, sagte Ex-Team-Sky-Fahrer Peter Kennaugh in der ITV-Abschiedsmontage.
Hinter der Bezahlschranke: Wie soll der Sport neue Fans gewinnen?
Für Gelegenheitszuschauer war ITV oft der erste Berührungspunkt mit dem Radsport. Viele stolperten zufällig über die Tour und blieben hängen – ganz ohne Abo. Diese Möglichkeit gibt es jetzt nicht mehr. „Ich sehe nicht wirklich, wie der Sport hinter einer Bezahlschranke wachsen kann“, erklärte Experte Matt Rendell. „Die Leute werden es nicht mehr aus dem Augenwinkel sehen.“
ITV war mehr als ein Sender – es war eine Gemeinschaft
Der Verlust trifft nicht nur das Publikum, sondern auch die Radsport-Community. Für viele war ITV weit mehr als ein reiner Überträger. Es war eine Familie, eine Tradition, eine Sprache des Sommers. „Dies ist mein erstes und mein letztes Jahr in der ITV-Familie“, sagte Alex Dowsett im Abschiedsvideo. „Mein Highlight waren einfach die Freundschaften, die ich auf diesem Weg geschlossen habe.“
Ohne Sichtbarkeit bröckelt die Basis: Die Sorgen um den britischen Radsport
In seiner letzten Sendung blickte ITV auch auf die Entwicklung des Sports zurück. Kommentator Ned Boulting betonte, wie wichtig die Erfolge von Team Sky und Fahrern wie Mark Cavendish,
Geraint Thomas und Bradley Wiggins für den britischen Radsportboom waren. „Es gab eine Zeit, in der Cavendish der britische Sportstar schlechthin war.“
Doch mit Cavendishs Karriereende und dem bevorstehenden Abschied von Geraint Thomas steht die nächste Generation vor einer weitaus schwierigeren Ausgangslage. Die britische Straßenrennszene kämpft. Die Zahl der Rennen sinkt, ebenso die Zahl der Nachwuchsfahrer. „Ohne regelmäßige Berichterstattung wird der Weg von der Basis zum Profiradsport noch schwächer“, warnte Boulting.
Auch David Millar sieht die Entwicklung mit Sorge: „An der Basis gibt es viele engagierte Vereine und Freiwillige, aber die Zahl der Rennen im Vereinigten Königreich ist in den letzten 10 bis 15 Jahren tatsächlich zurückgegangen.“ Der Verlust an Sichtbarkeit droht zur Abwärtsspirale für den gesamten britischen Radsport zu werden.
ITV setzte Maßstäbe in Qualität und Integrität
Das Kommentatorenteam blickte mit Stolz auf seine Arbeit zurück. „Wir haben uns dem Journalismus verschrieben und gesagt, was gesagt werden musste, um unsere Integrität zu bewahren – egal, ob es beliebt war oder nicht“, sagte Ned Boulting. ITV genoss den Ruf, nicht nur das Rennen, sondern auch die französische Kultur zu verstehen. Selbst in Zeiten von Skandalen und Dopingverdacht blieb das Team seinem Qualitätsanspruch treu.
Die Tour de France fährt weiter – aber Großbritannien schaut anders zu
„Die Tour wird natürlich weitergehen, wie sie es immer getan hat“, schloss Boulting. Doch für alle, die das Rennen 25 Jahre lang kostenlos auf ITV begleitet haben, war es immer mehr als nur ein Sportevent. Es war eine Sommertradition, ein emotionales Erlebnis, das tief in der britischen Kultur verwurzelt war.
Der Abschied von ITV reißt eine Lücke, die mehr ist als ein technischer Verlust eines TV-Vertrags. Es ist das Ende einer Verbindung zwischen Millionen britischer Zuschauer und einem der poetischsten Bilder des Sports. Die Tour de France verschwindet nicht – aber die Art und Weise, wie sie im Vereinigten Königreich erlebt wird, hat sich grundlegend verändert.
Die große Frage: Kann Radsport hinter der Paywall noch wachsen?
Die zentrale Frage bleibt: Kann ein Sport, der einst durch breite Sichtbarkeit florierte, auch hinter einer Bezahlschranke weiter wachsen? Für eine ganze Generation war ITV gleichbedeutend mit der Tour de France. Es ging nie nur um die Übertragung – es war ein fester Bestandteil des britischen Sommers. Oder wie es ein Kommentator formulierte: „Es war ein Ausbruch von Lachen zwischen den Anstiegen.“
Die Straße führt weiter. Aber die Aussicht hat sich verändert.