Am zweiten Ruhetag der
Tour de France 2025 legten nicht nur die Fahrer die Beine hoch, sondern auch zwei, die das Rennen von der Seitenlinie mit der geballten Erfahrung zweier Generationen verfolgen:
Jan Ullrich und
Rick Zabel. In ihrem Podcast
"Ulle und Rick" ziehen sie Bilanz über die ersten 15 Etappen – und liefern eine so tiefgreifende wie emotionale Analyse der Tour.
Etappe 12: Ein Schlag ins Gesicht der Konkurrenz
Schon der Einstieg in die Analyse ist ein Paukenschlag: Etappe 12 zur Bergankunft nach Hautacam markierte einen vorläufigen Höhepunkt der diesjährigen Frankreichrundfahrt. Rick Zabel fasst zusammen: "Tadej dominiert. [...] Er hat ja wirklich am Hautacam direkt unten rein kurzen Prozess gemacht." Gemeint ist der Auftritt von
Tadej Pogacar, der das Feld am ersten echten Hochgebirgstag auseinander nimmt. Jan Ullrich erinnert sich: "Ich hatte schon beim Zuschauen Laktat in den Beinen."
Dabei war das Rennen keineswegs ohne Fragezeichen: Pogacar war am Vortag gestürzt. Ullrich beschreibt die Ungewissheit über dessen Zustand: "Wie sind seine Sturzverletzungen, wie hat er geschlafen [...] das war ja praktisch dann die allererste Bergwertung." Doch Pogacar lässt sich davon nicht beeindrucken. Mit seinen Helfern Jhonathan Narvaez, Adam Yates und Marc Soler inszeniert er eine gnadenlose Tempoverschärfung. "Er hat uns eines Besseren belehrt und richtig, richtig Gas gegeben", analysiert Ullrich.
Der Slowene holte über zwei Minuten auf
Jonas Vingegaard heraus. "Das sah so spielerisch aus", staunt Ullrich. "Da kam der Einbruch – also nee, Einbruch will ich nicht sagen – aber Vingegaard konnte das Tempo nicht mehr mitgehen." Selbst für die beiden Experten ist das Ausmaß der Attacke überraschend: "Ich hab ganz ehrlich nicht mit so einer frühen Attacke gerechnet", sagt Ullrich. "Da hat uns Tadej mal gezeigt, was er kann."
Florian Lipowitz: Der neue Stern am deutschen Radsporthimmel
Doch nicht nur Pogacars Leistung war bemerkenswert. Der dritte Platz bei der Hautacam-Etappe ging an
Florian Lipowitz, den jungen Deutschen aus dem Team
Red Bull - BORA - hansgrohe. "Er ist erschreckend nah an Vingegaard dran", konstatiert Zabel.
Ein Umstand, der für Euphorie sorgt: "Das löst sofort 'ne Euphorie in Deutschland aus", sagt Ullrich. Dennoch mahnt er zur Zurückhaltung: "Lass den Jungen erst mal Luft zum Atmen. [...] Erwartet nicht zu viel." Die Experten sind sich einig: Die Kapitänsrolle innerhalb des Teams ist geklärt, Lipowitz ist stärker als
Primoz Roglic.
Die Leistung erinnert Ullrich an seine eigene erste Tour 1996: "Jungfahrertrikot und erstes Tour-Podium." Auch Zabel ist voller Respekt: "Die Leistung spricht für sich. Wahnsinn."
Etappe 13: Ein Bergzeitfahren als Offenbarung
Was sich am Hautacam andeutete, wurde beim Bergzeitfahren der 13. Etappe bestätigt: Pogacar ist nicht zu schlagen. "Ich hab mir gedacht, das Bergzeitfahren brauche ich mir gar nicht anschauen", sagt Zabel. Recht behält er. Der Slowene gewann mit deutlichem Vorsprung. "Pogi gewinnt schon seine vierte Etappe an dem Tag, hat jetzt über vier Minuten Vorsprung."
Vingegaard zeigt eine starke Leistung, doch gegen Pogacar reicht es nicht. "Der ist ja ganz klar der zweitbeste Fahrer in dem Feld, aber er hat halt immer diesen Pogi vor sich", resümiert Zabel. "Ich denk mir jetzt gerade so n bisschen: Hoffentlich gewinnt er noch 'ne Etappe – so als Trostpflaster."
Remco Evenepoel: Vom Podiumskandidat zum Aussteiger
Ein Drama bahnte sich derweil bei Remco Evenepoel an. Bereits am Hautacam verliert er deutlich, beim Zeitfahren wird er von Vingegaard fast überholt, am Tag danach steigt er aus. Zabel schildert: "Man hat ihn gesehen, 12 Mal ans Auto gefahren [...]. Dann wusste man: Der wird nicht mehr lange fahren."
Die Begründung ist ernüchternd: "Ich bin leer, ich kann nicht mehr, ich bin nicht auf meinem Leistungsniveau." Ullrich zeigt Verständnis: "Die Basis war nicht groß genug. Das Fundament der Form war nicht groß genug."
Dabei ist Evenepoels Abbruch ein Schock für viele: "Remco ist ein absoluter Star in Belgien", erinnert Zabel. "Das ist A-Prominenz. Die ganze Nation erwartet von dem Tour-de-France-Sieg."
Trotz allem bleibt die Hoffnung: "Remco wird zurückkommen und wieder große Radrennen gewinnen", prophezeit Ullrich.
Etappe 14: Der Tag der Großzügigkeit
Auf der Etappe nach Luchon-Superbagnères schaltet Pogacar zurück – zumindest gefühlt. Thymen Arensman gewinnt als Solist. Ullrich zeigt sich begeistert: "Superstark, der Junge. Ich hab mich richtig gefreut." Und auch Pogacars Verhalten beeindruckt: "Er hätte wahrscheinlich schneller fahren können. [...] Aber er ist dann am Hinterrad von Vingegaard geblieben."
Dass Arensman fast schon dem Tourdominator dankt, findet Zabel bemerkenswert: "Der bedankt sich am Ende fast noch bei Pogacar, dass der ihn nicht attackiert hat."
Diese Szene steht sinnbildlich für das Fairplay, das sich durch das ganze Rennen zieht. "Es ist auch eine riesen Werbung für den Radsport", sagt Ullrich. "Da sind Menschen am Start, keine Maschinen."
Etappe 15: Die Belohnung für den Helfer
Tim Wellens gewinnt die Etappe nach Nîmes - Ullrich unterstreicht die Bedeutung: "Das ist ja ein Ritterschlag. [...] Das haben nicht viele geschafft: bei allen drei großen Rundfahrten eine Etappe zu gewinnen."
Auch sportlich war die Attacke wohlüberlegt: "Wenn ich jetzt hier attackiere und zehn Meter in die Abfahrt mitnehme, dann holt mich keiner mehr ein", analysiert Ullrich die Schlussoffensive von Wellens.
Ein Blick ins Fahrerfeld: Respekt, Rivalität und Regeneration
Ein besonders spannender Aspekt, den Rick Zabel im Podcast anspricht, ist die psychologische Wirkung von Pogacars Dominanz auf das Fahrerfeld. "Diese zwei Minuten zehn fühlen sich ja dann an wie zehn Minuten vorm Fernseher", schildert er die Szene am Hautacam. Ullrich ergänzt: "Das ist dann mental auch für Vingegaard eine richtige Packung."
Diese Aussagen zeigen, wie tief solche Momente in das Selbstvertrauen eines Top-Favoriten schneiden können. Noch entscheidender ist jedoch, dass selbst Fahrer wie Thymen Arensman oder Florian Lipowitz – beide in Topform – sich am Ende des Tages immer noch nach Pogacar richten müssen.
Die Szene, in der sich Arensman beinahe bei Pogacar bedankt, dass er ihn die Etappe gewinnen ließ, wird von Zabel als bezeichnend beschrieben: "Das ist ja krass, dass man das als Athlet selber denkt." Diese Hierarchie im Feld, in der Pogacar gleichsam über Sieg oder Niederlage anderer entscheidet, ist ein zentrales Thema der Podcastfolge.
Gleichzeitig zeigen die beiden Podcast-Hosts, dass der Radsport – so formelhaft das klingen mag – immer noch unberechenbar ist. Denn obwohl Pogacar scheinbar mühelos dominiert, bleibt das Risiko im Sport omnipräsent. Ullrich erinnert sich an seinen eigenen Tour-Sieg 1997 und sagt: "Ich hab bis zur Ziellinie auf den Champs-Élysées noch Angst gehabt, dass ich stürze."
Der Respekt vor dem Unvorhersehbaren bleibt, ganz egal, wie souverän ein Fahrer wirkt. Auch bei Pogacar scheint sich das fortzusetzen. So beschreibt Rick Zabel ein Interview mit Pogacar, in dem dieser von einer leichten Erkältung berichtet – ausgelöst durch den Temperaturwechsel zwischen Gluthitze auf der Straße und runtergekühlten Teambussen. "Da hat er gesagt, das liegt vor allem daran, dass es so heiß ist und dann sofort in die Eisdusche oder den kalten Bus", zitiert Zabel. Solche Details zeigen, wie schmal der Grat zwischen körperlicher Überlegenheit und plötzlicher Schwächung sein kann – auch bei einem scheinbar unbesiegbaren Fahrer.
Spannung in der Schlusswoche: Was noch kommen kann
Trotz Pogacars Dominanz bleibt Spannung für die Schlusswoche. "Es kommen noch drei richtig schwere Bergankünfte", warnt Ullrich. "Und wenn Pogacar da einen schlechten Tag hat, sind vier Minuten auch schnell weg."
Rick Zabel beschreibt die bevorstehenden Etappen und deren Taktik-Potenzial, etwa den Anstieg zum Col de la Loze: "Der wird den Toursieger küren. Wer da oben in Gelb ist, wird es in Paris tragen."
„Gerade auf Etappe 16, die von Montpellier hinauf zum Mont Ventoux führt, wird sich zeigen, ob Pogacar seinen Vorsprung weiter ausbauen kann oder ob Vingegaard mit einem verzweifelten Angriff überrascht. 'Da wartet der Riese der Provence', sagt Rick Zabel, und beschreibt, wie der lange Anstieg nach etwa 150 flachen Kilometern das gesamte Klassement auf den Kopf stellen könnte. Die Etappe sei wie gemacht für Angriffe aus der Ferne – die Frage sei nur, ob das Tempo so hoch sein wird, dass die Ausreißer überhaupt eine Chance haben. Auch auf Etappe 17 sei, so Zabel, „kein klassischer Massensprint zu erwarten“, obwohl das Profil danach aussieht. Und auf der 18. Etappe zum Col de la Loze, dem höchsten Punkt der Tour, sei laut beiden Experten endgültig mit der Entscheidung im Gesamtklassement zu rechnen.“
Zudem bleibt der Kampf um Grün und Bergpunkte spannend. Pogacar führt auch hier – allerdings eher nebenbei. "Er fährt ja nicht mal aktiv auf die Sprintwertung oder auf die Bergwertung", so Zabel.
Auch wenn Tadej Pogacar aktuell dominiert, zeigen Ullrich und Zabel auf, wie komplex und unvorhersehbar die letzte Tour-Woche noch werden kann. Jan Ullrich erinnert daran, dass er selbst einst mit neun Minuten Vorsprung bis Paris zittern musste, weil ein Sturz oder ein Einbruch jederzeit alles verändern kann. Rick Zabel beschreibt zudem die Herausforderung durch Hitze, kalte Teambusse und das ständige Pendeln zwischen Extremen.
Was als Rückblick begann, wurde zu einem spannenden Zwischenstand zweier Tour-Kenner. Pogacar dominiert, Vingegaard ringt um Anschluss, Lipowitz entfacht deutsche Hoffnung, Evenepoel muss aufgeben, Arensman triumphiert und Wellens wird belohnt. "So ist das Spiel im Radsport", sagt Ullrich.
Ob Pogacar am Ende alles gewinnt? Vielleicht. Doch die Tour lebt – gerade durch ihre Geschichten zwischen den Namen. Und genau die erzählen Ullrich und Zabel mit jener Leidenschaft, die diesen Sport einzigartig macht.