Nachdem sich die Emotionen dieser unvergesslichen
Tour de France nach einer spektakulären und unkonventionellen Schlussetappe in Paris gelegt haben, wollen wir in unserem heutigen Diskussionsartikel einen Schritt zurücktreten und das Rennen als Ganzes betrachten. Neben dem Sieger und den Schlüsselmomenten konzentrieren wir uns auf die Leistungen der Fahrer, die zu den sogenannten „Big Six“ des modernen Radsports gehören:
Tadej Pogacar,
Jonas Vingegaard, Remco Evenepoel,
Primoz Roglic,
Mathieu van der Poel und
Wout van Aert.
Die Erwartungen an diese Fahrer waren vor Beginn des Rennens enorm. Die größten Stars stehen stets im Fokus, müssen dem Druck standhalten – und werden am härtesten bewertet. Doch haben sie diese Erwartungen erfüllt? Wie fallen ihre Leistungen insgesamt aus? Unsere Autoren liefern ihre Einschätzungen und Analysen.
Rúben Silva (CyclingUpToDate)
Tadej Pogacar war wie erwartet der Dominator der Tour. Er fuhr konservativer als in früheren Jahren, kontrollierte das Rennen aber nach Belieben. Der Slowene war der stärkste Kletterer, hatte keinen einzigen schlechten Tag und ist unter normalen Bedingungen schlicht unschlagbar.
Jonas Vingegaard zeigte große Stärke, verlor aber durch schwächere Tage im Zeitfahren und am Hautacam fast vier Minuten. Dennoch bot er Pogacar bis zur 18. Etappe einen ernsthaften Kampf. Seine Auftritte am Mont Ventoux und Col de la Madeleine gehörten zu den besten der Tour, doch gegen Pogacar war kein Kraut gewachsen. Visma setzte auf ständige Attacken, machte das Rennen taktisch interessant und bot damit weit mehr als nur ein „guter“ zweiter Platz.
Im Kampf um die Top 5 glänzten
Florian Lipowitz und Oscar Onley als neue Grand-Tour-Größen. Felix Gall überzeugte als purer Kletterer, während Johannessen, Vauquelin und Jegat konstant ablieferten. Primoz Roglic sorgte mit späten Ausreißversuchen für Unterhaltung, und Ben Healy brachte mit mutigen Angriffen zusätzliche Spannung.
Remco Evenepoels Ausstieg war nachvollziehbar. Selbst ein späterer Etappensieg hätte seine Tour nicht grundlegend verändert.
In der Bergwertung ist es enttäuschend, dass die Punktevergabe unverändert bleibt.
Pogacar gewann das Trikot vor
Vingegaard, obwohl beide nicht aktiv darauf fuhren. In der Punktewertung war
Jonathan Milan der verdiente Sieger – Lidl-Trek hielt Ausreißer zurück und sicherte jeden Punkt. Pogacar hätte diese Wertung spielend gewinnen können, tat es aber nicht.
Mathieu van der Poel nutzte seinen ersten Tour-Start seit vier Jahren perfekt. Er gewann eine Etappe, trug Gelb und sorgte mit spektakulären Ausreißaktionen für Spannung. Wout van Aert setzte in Paris mit einem brillanten Sieg auf den Champs-Élysées ein starkes Ausrufezeichen. Seine Attacke am Montmartre war ein Highlight dieser Tour – ein Anstieg, den wir hoffentlich öfter sehen werden.
Félix Serna (CyclingUpToDate)
Die „Big Six“ sind eine exklusive Gruppe – jeder Fahrer einzigartig und unersetzlich. Ein direkter Vergleich ist jedoch schwierig, denn jeder bringt unterschiedliche Stärken mit, sei es Zeitfahren, Hochgebirge oder Klassikerqualitäten. Dazu kommt die individuelle Form und Erwartungshaltung.
Pogacar zeigte erneut, dass er der Maßstab bleibt. Einige hätten sich mehr Etappensiege gewünscht, doch sein Ziel war klar: der Toursieg. Er erreichte ihn souverän, ohne Schwächephase – ein Novum selbst in seiner erfolgreichen Karriere. Die Glanzleistung kam in Hautacam, wo er das Feld deklassierte.
Vingegaard überraschte weniger mit seiner Leistung als mit seiner Präsenz. Der sonst zurückhaltende Däne zeigte sich medienstark und selbstbewusst, auch als er über vier Minuten Rückstand hatte. Visma agierte so offensiv wie nie zuvor. Zudem offenbarte Vingegaard eine neue Explosivität – ein psychologisches Duell mit Pogacar bahnt sich an. Die Szene in La Plagne, wo er Pogacar taktisch unter Druck setzte, zeigte diesen neuen Ansatz.
Evenepoel blieb hinter den Erwartungen zurück. Sein Einbruch in den Pyrenäen, beginnend am Hautacam, war das Ende aller GC-Hoffnungen. Ob Krankheit, mentale Erschöpfung oder fehlende Vorbereitung – er ist noch nicht auf Pogacar- oder Vingegaard-Niveau. Ein Podiumsplatz wäre realistischer gewesen. Ein Team, das voll auf ihn zugeschnitten ist, könnte künftig helfen.
Primoz Roglic erlebte eine merkwürdige Tour. Mit Platz 8 und ohne Etappensieg blieb er unter seinen Möglichkeiten. Statt Lipowitz zu unterstützen, fuhr er eigene, meist erfolglose Ausreißversuche. Es war die erste Grand Tour ohne Etappensieg – ein Beweis für seine sonstige Erfolgsbilanz.
Mathieu van der Poel brillierte in der ersten Rennhälfte. Trotz Bronchitis war er einer der aktivsten Fahrer und bewies, dass er mehr ist als ein Klassikerjäger. Es war seine beste Tour-Performance bisher.
Wout Van Aert hinterließ gemischte Eindrücke. Sein Tagessieg in Paris erinnerte an seine Glanzzeiten, doch über die Gesamttour hinweg fehlte die alte Dominanz. In den Bergen war er schnell abgeschlagen und konnte Vingegaard kaum unterstützen.
Neben den Big Six sorgten Lipowitz, Onley, Gall, Simmons, Healy und Jegat für frischen Wind. Ihre Aggressivität und Unberechenbarkeit machten viele Etappen spannend. Lipowitz könnte sich sogar in naher Zukunft zu einem der ganz Großen entwickeln.