Nach über der Hälfte des Giro d’Italia 2025 hat sich das Rennen erneut gedreht – und mit der 11. Etappe wurde ein weiteres Kapitel geschrieben.
Richard Carapaz meldete sich mit einem spektakulären Solo-Coup zurück und gewann seine erste Giro-Etappe seit seinem Gesamtsieg 2019. Doch während der Ecuadorianer glänzte, blieben andere Favoriten blass. Wir haben unsere Redakteure gefragt: Was war das für ein Tag?
Ivan Silva (CiclismoAtual)
„Eine Etappe, die vielversprechender begann, als sie am Ende war.“
Ich hatte gehofft, dass die GC-Teams – vor allem UAE – den Tag offensiver gestalten würden. Die Phase, in der sich keine Ausreißergruppe bilden konnte, ließ zumindest darauf schließen, dass Interesse bestand, früh Druck zu machen. Doch dann? Nichts.
Ich hatte erwartet, dass UAE früh angreift, um Primož Roglič zu isolieren. Stattdessen hielten sie sich überraschend zurück. Lidl-Trek übernahm plötzlich das Kommando, angeblich für Vacek – der später komplett unsichtbar blieb. Die Ausreißergruppe selbst war schwach besetzt, schien eher auf Bergpunkte (Fortunato) und Fernsehzeit aus zu sein. Sie wurde viel zu leicht gestellt, unter anderem von Mads Pedersen im Alleingang – das sagt schon einiges.
Carapaz’ Angriff kam dann aus dem Nichts – aber was mich wirklich irritierte: Niemand ging mit. Es wirkte fast, als warteten alle nur darauf, dass jemand anderes die Initiative ergreift. Aber niemand tat es.
Fin Major (CyclingUpToDate)
„Ein chaotischer Tag mit hohem Tempo – und ein bisschen Nostalgie.“
Die erste Rennhälfte war reines Chaos. Ständig Attacken, ein zersplittertes Feld, und ein durchschnittliches Tempo von über 50 km/h – das sagt alles. Es gab eigentlich kein richtiges Peloton, sondern nur viele kleine Gruppen, die sich versuchten, irgendwie zu sortieren.
Und dann, ganz nebenbei: Wie schön ist es bitte, Nairo Quintana wieder im Rennen zu sehen? Er ist vielleicht kein GC-Kandidat mehr, aber er kann immer noch richtig klettern und technisch sauber abfahren. Allein seine Präsenz macht die Bergetappen wieder ein Stück besonderer.
Carapaz hat den Moment perfekt gewählt. Aber so stark sein Sieg auch war – die große Frage bleibt: Was war mit Roglič? Und hat sich Isaac del Toro tatsächlich vor Ayuso geschoben? Die kommenden Tage werden zeigen, ob sich das Kräfteverhältnis jetzt endgültig verschiebt.
Primoz Roglic war über weite Strecken der Etappe isoliert
Was man aber definitiv hinterfragen muss, ist die Taktik von zwei Teams: UAE Team Emirates-XRG und Lidl-Trek.
Im Fall von UAE könnte sich dieser Tag noch als verpasste Chance erweisen – besonders, wenn Primož Roglič in der dritten Woche wieder zuschlägt. Der Slowene war über weite Strecken der Etappe isoliert, aber weder Ayuso noch Del Toro konnten ihn wirklich unter Druck setzen. Roglič beherrscht das Timing in Grand Tours wie kein Zweiter – und er wird seine Gelegenheit abwarten. Besonders brisant: Del Toro schien wenig Interesse zu haben, Ayuso zu unterstützen. Sind das erste Risse im UAE-Konstrukt?
Auch bei Lidl-Trek wirft die Strategie Fragen auf. Mads Pedersen war erneut der stärkste Mann im Team, fuhr ein gnadenloses Tempo – doch wofür? Vacek war in der entscheidenden Phase nicht präsent, und Pedersens Einsatz sorgte am Ende nur dafür, dass die Ausreißergruppe eingeholt wurde. Viel Einsatz, kein Ertrag – und die Fluchtgruppe wird ihm für dieses Tempo wohl kein Bier spendieren.
Victor LF (CiclismoAlDia)
„Carapaz mutig, Del Toro effektiv – aber Lidl-Trek bleibt ein Rätsel.“
Starke Etappe heute beim Giro. Lange wollte niemand wirklich eine Ausreißergruppe ziehen lassen – und als sich dann doch ein paar namhafte Fahrer absetzten, kontrollierte das Feld sie konsequent. Rückblickend bleibt unklar, warum Lidl-Trek, allen voran Mads Pedersen, so viel Arbeit investierte, während etwa Q36.5 mit Tom Pidcock eine echte Siegchance hatte und dennoch zurückhaltend agierte.
Am Ende war es Richard Carapaz, der einmal mehr seinen Mut bewies und mit einer entschlossenen Attacke die Etappe für sich entschied. Für die Klassementfahrer war das kein Desaster – im Gegenteil: Isaac Del Toro sicherte sich mit dem zweiten Platz ein paar wertvolle Bonussekunden und krönte eine insgesamt überzeugende Teamleistung von UAE auf den letzten Kilometern.
Ruben Silva (CyclingUpToDate)
„Carapaz zündet die Lunte – endlich ein GC-Tag mit Substanz.“
Im Gegensatz zu Ivan war ich von dieser Etappe tatsächlich positiv überrascht. Als ich das Profil sah, dachte ich sofort: Potenzial für einen echten GC-Schlagabtausch. Aber mit dem bisherigen Verlauf des Giros sanken meine Erwartungen – bis heute.
Der Etappenstart war rasant – flach, schnell, chaotisch. Viele rechneten mit einem klassischen Ausreißertag. Doch Müdigkeit, Taktik und das hohe Tempo sorgten dafür, dass sich das Rennen plötzlich zu einem echten Prüfstein entwickelte. Die Gruppe vorn sah gut aus, aber das Feld fuhr auf maximalem Niveau – vor allem, weil Mads Pedersen offenbar versuchte, einem Teamkollegen den Weg zum Etappensieg zu ebnen. Ob das sinnvoll war, ist eine andere Frage.
Egan Bernals Attacke war ein Highlight – besonders, weil nur Del Toro und Ayuso folgen konnten. Es war schön zu sehen, dass der brutale Anstieg zur Alpe San Pellegrino tatsächlich für Action genutzt wurde und nicht im Energiesparmodus gefahren wurde.
Und dann kam Carapaz – in Topform, furchtlos, angriffslustig. Sein Team wird den Giro nicht dominieren, aber er selbst kann an jedem Tag das Rennen auf den Kopf stellen. Genau das macht ihn aktuell zum gefährlichsten Mann unter den Favoriten. Mit Bernal im Aufwind und dem Fehlen eines übermächtigen Anführers bleibt es in den Bergen weiter völlig offen.
Bernal will um das Podium kämpfen
Was man den VAE allerdings zugutehalten muss: Im Finale zeigten sie taktisches Feingefühl. Del Toro attackierte, Ayuso ließ bewusst abreißen, um Roglič in Zugzwang zu bringen – eine clevere Variante, um Druck aufzubauen. Für mich war das ein ermutigendes Zeichen von Teamwork, gerade in einem Team, das oft auf individuelle Klasse setzt.
Und trotzdem: UAE war klar das stärkste Team des Tages, nutzte seine Stärke im Vorfeld aber kaum aus. Dass Fahrer wie Yates und McNulty – beide in den Top Ten der Gesamtwertung – weiterhin nur als Helfer eingesetzt werden, wirkt wie eine verpasste Chance. Vielleicht geht dieser konservative Ansatz auf. Vielleicht rächt er sich in zehn Tagen.
Ondrej Zhasil (CyclingUpToDate)
„Der Giro ist bereit zu explodieren – aber einer drückt ständig auf die Bremse.“
Diese Etappe war ein seltsames Spiel aus Spannung und Enttäuschung. Als Egan Bernal am San Pellegrino attackierte, sah es kurz so aus, als würde das Rennen explodieren. Mehrere Fahrer aus den Top Ten, darunter auch Roglič, hatten plötzlich Schwierigkeiten – aber statt eines offenen Schlagabtauschs sorgte UAE mit ihrer Dominanz dafür, dass die Dynamik sofort erstickt wurde.
Klar, die Mannschaft ist stark. Doch solange dort keine klare Rollenverteilung herrscht, bleibt der Giro ein abwartendes Taktieren. Ich glaube, sie hätten heute deutlich mehr erreichen können – aber am Ende war nur Rafal Majka bereit, seine Karten komplett für das Team zu spielen. Die anderen vier fuhren mehr für sich selbst.
Großes Lob an Carapaz. Er hat die Situation am besten gelesen, hat die Lücke erkannt und den Sieg geholt. Kann er den Giro gewinnen? Vermutlich nicht. Aber wenn UAE und Roglič weiter auf Nummer sicher fahren, erleben wir vielleicht tatsächlich ein Déjà-vu von 2019 – und dann wird’s richtig interessant.
Nicht zu vergessen: Auch Astana darf sich freuen. Fortunato hat mit seiner aktiven Fahrweise einen wichtigen Schritt Richtung Bergtrikot gemacht. Dass es am Ende nicht zum Etappensieg gereicht hat? Ich glaube, Poels und Fortunato fehlte einfach die nötige Power.
Carlos Silva (CiclismoAtual)
„Ein Erdbeben am San Pellegrino – und Del Toro tanzt über die Trümmer.“
Was für ein Tag beim Giro. Lorenzo Fortunato unterstrich seinen Anspruch auf das Bergtrikot und sammelte wichtige Punkte – ein stiller, aber bedeutender Erfolg für Astana.
Doch das wahre Beben kam am Hauptanstieg des Tages. Egan Bernal schüttelte das Feld durch wie eine Schneekugel – ein wuchtiger Angriff, der das ohnehin schon dezimierte Peloton in einzelne Trümmer zerlegte. Plötzlich wurde es eng unter den Favoriten. Selbst Roglič musste zeitweise reißen lassen.
Und dann kam Nairo Quintana, lächelnd und locker, als würde er gerade eine Sonntagstour fahren. Der Kolumbianer zeigte: Er ist wieder da – nicht für die Gesamtwertung, aber ganz sicher für eine Etappe. Lidl-Trek spannte sich derweil vorne ein, offenbar für Giulio Ciccone, doch am Ende war es Richard Carapaz, der neun Kilometer vor dem Ziel eiskalt attackierte und alles stehen ließ.
Isaac del Toro zeigte derweil Cleverness und Übersicht. Er trat kurz vom Gas, beschleunigte dann wieder und blickte sich um – Ayuso war weg, Roglič ebenso. Und so nahm Del Toro noch sechs Sekunden Zeitgutschrift mit ins Ziel – ein kleiner, aber feiner Vorsprung.
Aktuell ist Del Toro der stärkste Mann im Rennen. Lockerer Tritt, schnelles Reaktionsvermögen, klarer Fokus. Wenn UAE es schafft, ihn nicht selbst auszubremsen, wird der junge Mexikaner in den Alpen schwer zu knacken sein.
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