Jeannie Longo war nie für Zurückhaltung bekannt – und auch im Gespräch mit Cyclism’Actu fand die französische Radsport-Ikone deutliche Worte. Wenn sie
Tadej Pogacar Rennen prägen sieht, fühle sie sich an die unerschrockene Fahrweise ihrer eigenen Dominanzjahre erinnert.
Die mehrfache Tour-de-France-Siegerin gestand, dass der Vergleich groß klinge, blieb aber standfest:
„Das mag ich … und ich werde jetzt etwas vermessen sein, aber es erinnert mich an mich selbst! Ich mag Angreifer.“
Longo sieht Pogacars Stärke in Kreativität und Chaos
Longo lobt Pogacars „Unberechenbarkeit“ – eine Qualität, die sie selbst zur Legende machte. Der Slowene gewinne nicht nur wegen seiner physischen Überlegenheit, sondern weil er das Rennen immer wieder gegen die Erwartungshaltung wendet.
„Taktisch macht er Dinge, die ich auch gemacht habe – originelle Dinge. Er greift nicht dort an, wo alle es erwarten.“
Diese Fähigkeit, ein etabliertes Drehbuch zu zerreißen, sei für sie Essenz des Sports. Pogacars lange Attacken – bis hin zu 80-Kilometer-Solos – seien Ausdruck einer Mentalität, die Longo seit Jahrzehnten propagiert: lieber gestalten als reagieren, lieber riskieren als verwalten.
Frankreichs neuer Aufschwung: Talente, Trends und ein wachsendes Peloton
Mit gleichem Enthusiasmus spricht Longo über den Zustand des französischen Radsports. Die jüngsten Erfolge von Pauline Ferrand-Prévot, Maeva Squiban,
Paul Magnier oder
Paul Seixas sieht sie als Zeichen eines strukturellen Booms – sichtbar auf den Straßen, sagt Longo, die an einem beliebten Anstieg lebt und täglich mehr Fahrerinnen sieht als je zuvor.
„Frankreich rüstet auf. Es gibt jetzt eine ganze Bevölkerung von Fahrerinnen und Fahrern.“
Doch Talent allein reiche nicht: Der Spitzenbereich erfordere Opfer, Fokus und eine bewusste Entscheidung für den Hochleistungssport.
Paul Seixas: großes Potenzial, aber kein Sprint ins Ungewisse
Besonders der 19-jährige Paul Seixas, der bei der EM neben Pogacar und Evenepoel auf dem Podium stand, beeindruckt Longo. Sie hält einen Tour-de-France-Start – und mehr – für denkbar, mahnt jedoch zur Geduld.
„Er ist jung, man darf ihn nicht verbrennen. Schritt für Schritt. Aber ja – warum nicht eines Tages die Tour?“
Gleichzeitig hebt sie hervor, wie stark französische Fans auf Erfolge reagieren. Schon zu ihrer Zeit füllte das Gelbe Trikot die Straßen; heute erlebt Ferrand-Prévot dieselbe Dynamik. Frankreichs Sehnsucht nach einem neuen Tour-Sieger sei verständlich, aber realistisch zu betrachten:
„Es gibt nur einen Sieger pro Jahr. Das ist nicht einfach.“
Eine Legende, die den Sport weiterhin klar liest
Longos Analyse verbindet drei Ebenen: die Anerkennung eines Jahrhunderttalents, die Beobachtung eines erstarkenden französischen Pelotons und die Mahnung, dass große Karrieren Zeit brauchen.
Ihr Blick auf Pogacar ist dabei zugleich nostalgisch und fachlich scharf. Sie erkennt in ihm, was sie selbst groß machte: die Bereitschaft, ein Rennen von der Spitze zu prägen – und die Konkurrenz im Unbekannten zu überrumpeln.
Eine Stimme, die seit Jahrzehnten polarisiert, bleibt damit ein präziser Seismograf des Sports: ungeschminkt, leidenschaftlich und unverwechselbar.