Mit 29 Jahren befindet sich Ben O’Connor auf dem Höhepunkt seiner Karriere – und doch fühlt sich das Jahr 2025 für den Australier widersprüchlich an. Nach erfolgreichen Jahren bei Dimension Data und Decathlon AG2R, wo er Etappen auf Weltniveau gewann und beinahe einen Grand-Tour-Triumph feierte, wechselte O’Connor zum australischen Team Jayco AlUla. Der Schritt sollte ein Neuanfang sein – die Rückkehr zu den eigenen Wurzeln, in ein Umfeld mit Landsleuten und vertrauter Mentalität. Doch hat sich dieser Wechsel wirklich ausgezahlt?
Die zentrale Frage lautet: War die Abkehr von Decathlon AG2R die richtige Entscheidung – sportlich wie menschlich? Das Potenzial zur Harmonie war da. O’Connor sprach offen über seinen Wunsch, in einem australischen Team zu fahren, das ihn emotional stärker trägt. In persönlichen Gesprächen betonte er, wie wichtig ihm ein vertrautes Umfeld sei – ein Team, in dem er locker auftreten könne, frei von kulturellen Barrieren. Doch sportlich war Decathlon die Mannschaft, die ihn groß gemacht hat. Dort fand er seine stärkste Form, dort erlebte er seine größten Siege.
Aufstieg bei Decathlon – Vom Hoffnungsträger zum Weltklasse-Fahrer
O’Connors Entwicklung bei Decathlon AG2R verlief beeindruckend. Schon in seinem ersten Jahr 2021 zeigte er bei der Tour de France seine Klasse, gewann eine schwere Bergetappe und belegte am Ende Rang vier der Gesamtwertung – ein Durchbruch, der ihn schlagartig in die Weltspitze katapultierte. In den Jahren 2022 und 2023 stabilisierte er sich, sammelte Podiumsplätze bei der Dauphiné, Tagessiege bei Etappenrennen und überzeugte auch bei Klassikern.
O'Connors Sieg bei der Tour de France war der einzige Höhepunkt in einem ansonsten bescheidenen Jahr. @Imago
2024 folgte dann seine bisher stärkste Saison: Zweiter bei der UAE Tour, Fünfter bei Tirreno-Adriatico, Zweiter bei der Tour of the Alps, Vierter im Giro d’Italia – O’Connor war konstant vorne dabei. Bei der Vuelta a España nutzte er seine Außenseiterrolle, gewann früh eine Etappe und fuhr mutig um das Rote Trikot. Am Ende belegte er Rang zwei hinter Primož Roglič – ein Ergebnis, das seine Stellung in der Elite des Radsports festigte. Der Saisonhöhepunkt aber kam bei der Straßen-WM in Zürich, wo er nur von Tadej Pogačar geschlagen wurde. Nie zuvor war O’Connor näher am großen Durchbruch gewesen.
Ernüchterndes Jahr 2025 – Zwischen Frust und einem magischen Tag
Mit diesen Ergebnissen im Rücken ging O’Connor 2025 voller Erwartungen an den Start. Doch das Frühjahr blieb blass. Weder bei den kleineren Etappenrennen noch bei der Tour de Suisse, wo er Siebter wurde, zeigte er seine alte Dominanz. Erst bei der Tour de France deutete sich Besserung an – allerdings mehr in einzelnen Momenten als im Gesamtergebnis.
Er attackierte mehrfach, suchte Ausreißergruppen, kämpfte um Etappensiege – viermal vergeblich. Dann kam der eine Tag, der seine Saison doch noch erleuchten sollte: die Königsetappe zum Col de la Loze. In typischer O’Connor-Manier entschied er das brutal schwere Teilstück mit einem furiosen Soloritt für sich. Auf dem härtesten Anstieg der Tour de France triumphierte er – kämpferisch, unerschrocken, unbeugsam. Mit diesem Etappensieg sicherte er sich auch kurzzeitig den Sprung in die Top 10 der Gesamtwertung.
Doch das Glück war flüchtig. Auf der flachen 20. Etappe verlor O’Connor seinen Platz an Jordan Jegat, der in einer Ausreißergruppe wertvolle Minuten herausholte. Damit rutschte O’Connor aus den Top 10, und nach der Tour blieben weitere Resultate aus. Ohne diesen Sieg in den Alpen wäre seine Saison wohl als pure Enttäuschung in Erinnerung geblieben.
Bilanz – Ein Wechsel mit Fragezeichen
Unterm Strich bleibt das Jahr 2025 für Ben O’Connor ein Rätsel. Sein Wechsel zu Jayco AlUla erfüllte den Wunsch nach Heimatgefühl, brachte menschliche Nähe und ein vertrautes Umfeld. Doch sportlich zahlte sich der Schritt bisher kaum aus. Die erhoffte Leistungssteigerung blieb aus, und mit dem Abgang mehrerer Schlüssel-Fahrer wächst der Druck.
O’Connor selbst bewertet seine Saison nüchtern. Er weiß, dass ein einziger Etappensieg – so emotional er auch war – nicht reicht, um von Erfolg zu sprechen. 2026 muss er liefern, will er seine Position als Teamkapitän und Top-Kletterer behaupten. Der Solosieg am Col de la Loze zeigte, dass das Feuer in ihm noch brennt. Doch die kommende Saison wird beweisen, ob aus seiner Sehnsucht nach Heimat auch sportlicher Erfolg werden kann.