Die Vereinigten Staaten von Amerika verfügen über eine große Bevölkerung, eine starke Wirtschaft und grundsätzlich gute Voraussetzungen für den Zugang zum Radsport. Dennoch bleibt der nationale Straßenradsportkalender im internationalen Vergleich überschaubar. Trotz dieser strukturellen Grenzen stellt die USA derzeit gleich zwei WorldTour-Teams – und 14 Fahrer, die bis 2026 über Verträge in der höchsten Liga des Profiradsports verfügen.
Matthew Riccitello (Decathlon CMA CGM Team)
Der Amerikaner wagt erst jetzt den Sprung auf WorldTour-Niveau – ein Schritt, der lange vorbereitet und alles andere als überraschend ist. Der 23-jährige reine Kletterer fuhr in den vergangenen Jahren erfolgreich für Israel – Premier Tech und krönte 2025 seinen Aufstieg zum Grand-Tour-Spezialisten mit einem beeindruckenden fünften Platz bei der Vuelta a España.
Ein Ergebnis, das kaum hoch genug einzuschätzen ist: Die Rundfahrt zählte zu den härtesten der letzten Jahre, mit zahlreichen Bergetappen und einem fordernden Zeitfahren, in dem er sich trotz seines geringen Gewichts als leichtester Fahrer der Gesamtwertung behauptete. Hinzu kamen mehrere herausragende Kletterauftritte Seite an Seite mit den Topstars des Rennens.
Gleichzeitig musste er dem enormen Druck standhalten, der mit seiner Teamzugehörigkeit einherging – Israel – Premier Tech sah sich während der Vuelta mit Forderungen von Zuschauern, Aktivisten und sogar Fahrerkollegen konfrontiert, das Rennen zu verlassen.
Trotz des durch den Aufstieg seines Teams gesicherten WorldTour-Status entschied sich der junge Amerikaner für einen Wechsel: Er schließt sich Decathlon AG2R La Mondiale an, wo er mit einem Dreijahresvertrag künftig zu den Anführern zählen wird.
Brandon McNulty (UAE Team Emirates - XRG)
Eine feste Größe im Team UAE Team Emirates – und ein Fahrer, der perfekt in dessen Philosophie passt. Der Amerikaner ist ein starker Etappenfahrer, aber kein ausgewiesener Grand-Tour-Spezialist. Damit steht er den zahlreichen Kapitänen des Teams in dreiwöchigen Rundfahrten nicht im Weg, sondern ergänzt sie ideal. In den vergangenen Jahren hat er als Helfer entscheidend zum Erfolg vieler Leader beigetragen. Wenn er jedoch freie Fahrt bekommt, nutzt er seine Chancen konsequent – und die Saison 2025 war voll davon.
Seit 2019 Teil der Mannschaft, erlebte er 2025 die wohl beste Phase seiner Karriere. Schon zuvor hatte er Etappensiege beim Giro und der Vuelta gefeiert, doch im Spätsommer zündete er den Turbo: Gesamtsiege bei der Tour de Pologne, der Tour de Luxembourg und der Cro Race, dazu der Triumph beim Grand Prix de Montréal, den er gemeinsam mit Tadej Pogačar dominierte.
Auch bei der Giro d’Italia überzeugte er in neuer Rolle: Als Helfer für Isaac Del Toro und Juan Ayuso fuhr er erstmals selbst in die Top 10 einer Grand Tour – ein Beweis für seine Vielseitigkeit und Ausdauer auf höchstem Niveau.
Kevin Vermaerke (UAE Team Emirates - XRG)
Bereits mit WorldTour-Erfahrung ausgestattet, zählt der frühere Team Picnic PostNL-Profi zu den bislang drei Neuzugängen bei UAE Team Emirates – und zu den interessantesten. Denn obwohl der 25-Jährige in der Saison 2025 ohne herausragende Resultate blieb, deutete er im Vorjahr sein Potenzial eindrucksvoll an: Platz vier bei der Clásica San Sebastián und Rang fünf bei Milano–Torino untermauerten seine Qualitäten als explosiver Puncheur.
Seine genaue Rolle im Starensemble von UAE ist noch offen, doch mit seiner Vielseitigkeit und Angriffslust könnte er dort endlich den ersten Profisieg seiner Karriere feiern – eine Entwicklung, die kaum überraschen würde.
Quinn Simmons (Lidl-Trek)
"Captain America“
Quinn Simmons war einer der auffälligsten Fahrer der Saison 2025 – kämpferisch, kompromisslos und in entscheidenden Momenten stets präsent. Bei der Tour de France wurde er als kämpferischster Fahrer ausgezeichnet und spielte eine Schlüsselrolle für die Sprintambitionen von Jonathan Milan, die schließlich im Grünen Trikot gipfelten. In der Normandie war Simmons zudem nur knapp an einem Etappensieg vorbeigeschrammt.
Doch seine Saison war weit mehr als die Tour. Unmittelbar davor krönte sich der US-Amerikaner zum Landesmeister und feierte Etappensiege bei der Volta a Catalunya sowie der Tour de Suisse – beide auf WorldTour-Niveau.
Im Herbst zeigte Simmons dann seine bislang vielleicht stärkste Form: Dritter beim GP de Montréal, wo nur Tadej Pogacar und
Brandon McNulty stärker waren, und Vierter bei Il Lombardia, das er nach einer heldenhaften Soloflucht beendete – in einem Rennen, das eigentlich den reinen Kletterern vorbehalten ist.
Simmons, meist „Captain America“ genannt, gehörte zu den herausragenden Fahrern des Jahres 2025. @Sirotti
Matteo Jorgenson (Team Visma | Lease a Bike)
Matteo Jorgenson’s Entwicklung seit seinem Wechsel von Movistar zu Visma | Lease a Bike war geradezu explosionsartig. Bereits 2024 lieferte er eine nahezu perfekte Saison ab – 2025 bestätigte er dieses Niveau eindrucksvoll und zeigte auf vielfältige Weise, wie wertvoll er für das niederländische WorldTour-Team geworden ist. Kein Wunder also, dass sein Vertrag bis 2029 verlängert wurde – eine Win-win-Situation für Fahrer und Mannschaft.
Zu Beginn der Saison verteidigte der 26-Jährige seinen Titel bei Paris–Nice, nachdem Teamleader Jonas Vingegaard nach einem Sturz früh aussteigen musste. Anschließend glänzte Jorgenson in den Frühjahrsklassikern sowie beim Critérium du Dauphiné, wo er sich ganz in den Dienst seines dänischen Kapitäns stellte.
Er fuhr sowohl die Tour de France als auch die Vuelta a España an Vingegaards Seite – ein Duo, das mittlerweile perfekt harmoniert. Bei der Tour gab Jorgenson nach einem schwachen Tag in den Pyrenäen seine eigenen Ambitionen in der Gesamtwertung auf, blieb jedoch in allen entscheidenden Momenten präsent, wenn das Team Tadej Pogacar Paroli bot. Bei der Vuelta krönte er eine lange Saison mit einem Top-10-Platz in der Gesamtwertung, während Vingegaard das Rennen gewann – ein Erfolg, an dem Jorgenson als unverzichtbarer Edelhelfer großen Anteil hatte.
Sepp Kuss (Team Visma | Lease a Bike)
Nach seiner denkwürdigen Saison 2023 – in der er alle drei Grand Tours bestritt, Primož Roglič und Jonas Vingegaard zu Siegen beim Giro d’Italia und der Tour de France verhalf und anschließend selbst die Vuelta a España gewann – erlebte Sepp Kuss 2024 einen herben Rückschlag. Doch als Fahrer, der ohne Druck am besten funktioniert, passt der Amerikaner perfekt in das Konzept von Visma | Lease a Bike: eine Phalanx starker Kletterer aufzubieten, um Vingegaard optimal in Szene zu setzen.
2025 kehrte Kuss zu alter Stärke zurück – nicht ständig im Rampenlicht, aber immer dann, wenn es darauf ankam. Nach einem verhaltenen Saisonstart fand er bis zum Critérium du Dauphiné zu seinem Rhythmus und brillierte anschließend bei der Tour de France. Dort flog er die Anstiege wie den Mont Ventoux und den Col de la Madeleine hinauf, bereitete mit brutaler Präzision die „nuklearen“ Attacken von Vingegaard vor – die letzten Versuche, Tadej Pogačar noch zu bezwingen. Am Ende reichte es nicht zum Toursieg, doch Kuss’ Leistung blieb überragend.
Auch bei der Vuelta a España zeigte sich erneut der beste Sepp Kuss – diesmal ganz im Domestikenmodus, aber mit stetig wachsender Form im Verlauf des Rennens. Am Alto de l’Angliru wurde er Vierter, am Bola del Mundo schließlich Zweiter – und das nur, weil Gesamtsieger Vingegaard an diesem Tag die besseren Beine hatte.
Andrew August (INEOS Grenadiers)
Der erst 20-jährige Amerikaner bleibt eine langfristige Investition von INEOS Grenadiers und geht bereits in seine dritte WorldTour-Saison – bemerkenswert, bedenkt man, dass er erst vor wenigen Wochen seinen 20. Geburtstag gefeiert hat. Doch Magnus August ist längst mehr als nur ein Versprechen: Er hat bereits angedeutet, welches Potenzial in ihm steckt. Bei der Tour of Austria wurde er Fünfter, nur gestoppt von einem überragenden Isaac del Toro, der ihn gleich zweimal um seinen ersten Profisieg brachte.
Magnus Sheffield (INEOS Grenadiers)
Magnus Sheffield braucht keine Vorstellung. Mit 23 Jahren hat der US-Amerikaner zwar keinen großen Sprung gemacht, blieb aber auf konstant hohem Niveau – wie schon seit seinem Wechsel zu INEOS Grenadiers im Jahr 2022.
Der unbestrittene Höhepunkt seiner Saison: Paris–Nizza. Dort wurde er Gesamtvierter und gewann mit einem mutigen Angriff gegen die Klassementfahrer sowohl die Königsetappe als auch die Schlussetappe auf der Promenade des Anglais – ein Statement seines Talents und seiner Rennintelligenz.
Im Frühjahr war Sheffield immer präsent, auch wenn die ganz großen Ergebnisse ausblieben. Im Sommer hingegen fehlte etwas die Frische, und bei der Vuelta a España blieb er unter seinen Möglichkeiten, obwohl das Team auf ihn setzte.
Bleibt die Frage: Wird 2026 das Jahr, in dem der vielseitige Allrounder den entscheidenden Schritt in Richtung absolute Spitze macht?
Sheffield gewann die Königsetappe von Paris–Nizza in diesem Jahr. @Imago
Artem Shmidt (INEOS Grenadiers)
Der 21-Jährige stieß Ende 2024 zu INEOS Grenadiers und gilt als eine der nächsten großen US-Hoffnungen. Noch liegt seine Stärke klar auf flachem Terrain – im Zeitfahren krönte er sich bereits zum US-Meister.
Was seine langfristige Ausrichtung betrifft, ist das Kapitel noch offen. Doch eines steht fest: INEOS hat mit ihm einen Rohdiamanten verpflichtet, dessen Entwicklung in den kommenden Jahren spannend zu verfolgen sein wird.
Riley Sheehan (Cycling Academy)
Der 25-Jährige stammt aus der Cycling Academy, deren Zukunft nach dem Verlust des Titelsponsors im November ungewiss ist. Eine heikle Situation, doch Sheehan muss sich kaum Sorgen machen: Nach einer starken Saison und mit offensichtlichem Potenzial hat er sich längst ins Schaufenster der WorldTour gefahren.
Der Colorado-Native überzeugte als Klassikerspezialist mit schnellem Finish, belegte Rang vier beim Arctic Race of Norway und wurde Dritter bei der Deutschland Tour – jeweils gegen starke Konkurrenz.
Alles spricht dafür, dass Sheehan 2026 endlich den verdienten Sprung in die WorldTour schafft.
Neilson Powless (EF Education-EasyPost)
Neilson Powless liefert seit Jahren konstant starke Resultate im Profibereich, doch 2025 dürfte als sein bislang prägendstes Jahr in Erinnerung bleiben – vor allem wegen seines Auftritts bei Dwars door Vlaanderen.
Team Visma | Lease a Bike fuhr dort geschlossen auf ein Wout-van-Aert-Erfolgserlebnis hin, doch Powless nutzte die Situation eiskalt. Im Finale, als drei Visma-Fahrer an seiner Seite waren, verweigerte er jede überflüssige Attacke, arbeitete mit – und setzte im Sprint den entscheidenden Stich. Van Aert patzte, Powless triumphierte – ein Moment, der ihn endgültig in die Geschichtsbücher eintrug.
Doch die Saison des 29-Jährigen bestand nicht nur aus diesem Coup in Flandern: Powless gewann auch den GP Gippingen und fuhr Top-10-Platzierungen bei Klassikern wie der Clásica San Sebastián und dem GP de Montréal ein. Bei der Tour de France konnte er diese Form zwar nicht ganz bestätigen, doch im Eintagesrennen-Kalender blieb der Amerikaner ein Garant für Spitzenleistungen.
Powless’ Sieg über Wout van Aert und das Visma-Trio bei Dwars door Vlaanderen war eines der Highlights 2025. @Sirotti
Sean Quinn (EF Education-EasyPost)
Der ehemalige US-Meister erlebte eine verkürzte Saison, in der er von Mitte Februar bis Mitte Juli aufgrund gesundheitlicher Probleme keine Rennen bestreiten konnte. Erst bei der Vuelta a España fand er spät im Jahr zurück ins Peloton – ein wichtiger Schritt, um wieder Rhythmus zu finden.
2025 verlief insgesamt unspektakulär, ohne große Ausreißer nach oben, auch wenn er über weite Strecken stolz das Stars-and-Stripes-Trikot des nationalen Champions trug.
2026 könnte nun zur Saison des Neustarts werden – die Gelegenheit, verlorene Zeit wettzumachen und an seine frühere Form anzuknüpfen.
Colby Simmons (EF Education-EasyPost)
Colby Simmons, der jüngere Bruder des aktuellen US-Meisters Quinn Simmons, stieß zur Saisonmitte zu EF Education–EasyPost. Der 22-Jährige bringt Erfahrung aus Gravel-, Kriteriums- und Straßenrennen mit und gilt als vielseitiger Allrounder. Derzeit befindet er sich noch in einer Phase der Orientierung – gemeinsam mit dem Team testet er, welche Disziplin auf der Straße langfristig seine Stärke werden könnte..
Luke Lamperti (EF Education-EasyPost)
Nach zwei Jahren bei Soudal–Quick-Step wird Luke Lamperti 2026 der vierte US-Fahrer im EF-Kader sein. Dank seiner Sprintqualitäten dürfte er Gelegenheiten für Führungsrollen erhalten, zugleich ist er in Klassikern konkurrenzfähig – möglicherweise zusätzlich gestärkt durch ein Umfeld mit mehreren Landsleuten im Team.
Wird es noch mehr geben?
Auf ProTeam-Niveau gibt es für die kommende Saison lediglich einen Fahrer ohne Vertrag (Logan Phippen von Novo Nordisk), während auf Kontinentalebene kaum Namen auftauchen, die klar den Sprung in die WorldTour schaffen könnten. Aus Cyclocross, Mountainbike oder Gravel könnten jedoch neue Talente hervorgehen, in die einige Teams investieren. Besonders ab 2027, wenn Punkte aus diesen Disziplinen in die UCI-Rangliste der Straßenteams einfließen, könnte dies für Teams am unteren WorldTour-Level von großem Wert sein.