„Wir müssen ihm die Zügel anlegen“ - Warum Rolf Aldag Florian Lipowitz noch bremsen will

Radsport
durch Nic Gayer
Mittwoch, 16 Juli 2025 um 10:04
lipowitz
Von der Jagd nach dem Gelben Trikot bis zum Taktikpoker der Favoriten: Die zehnte Etappe der Tour de France 2025 sorgte im Podcast "Sportschau Tourfunk" für emotionale Reaktionen, spannende Analysen und interessante Einblicke – auch dank kurzer Interviews mit Ben Healy, Jonas Vingegaard und Grischa Niermann. In der neuesten Ausgabe widmeten sich Host Moritz Casalette und seine Experten Fabian Wegmann, Holger Gerska und Michael Ostermann den wichtigsten Themen der 10. Tour de France-Etappe.

Eine Etappe, drei Geschichten

Der "Tourfunk"-Podcast meldete sich am Montagabend mit frischen Eindrücken direkt aus dem Zielgebiet im Zentralmassiv. Moritz Casalette führt gewohnt launig durch die Runde mit ARD-Experte Fabian Wegmann, Reporter Holger Gerska und Michael Ostermann. Die Etappe, so Casalette zu Beginn, habe gleich drei Rennen geboten: um den Tagessieg, das Gelbe Trikot und zwischen den Favoriten auf den Toursieg.
„Was war für dich das schönste heute, Fabian?“ fragt Casalette. Und Wegmann muss nicht lange überlegen: Ben Healy. Der Ire vom Team EF Education-EasyPost hat mit einem beherzten Solo-Ritt nicht nur das Gelbe Trikot erobert, sondern ein Radsportmärchen geschrieben. "Das war einfach so geil, dieser Kampf", schwärmt Wegmann. Dass es am Ende nicht zum Etappensieg reichte, trübt seine Leistung keineswegs: "Er ist immerhin noch Dritter geworden."

Ben Healy – vom Etappensieger zum Maillot Jaune

Die Episode nimmt sich viel Zeit für die Leistung von Ben Healy. Bereits in der Vorwoche hatte der junge Ire eine Etappe gewonnen, nun setzte er mit dem Trikot des Gesamtführenden nach. "It’s a fairytale, you know," sagt Healy im O-Ton. "Wenn mir das jemand vor der Tour gesagt hätte, ich hätte es nicht geglaubt. Gewinnen und jetzt das Gelbe Trikot zu tragen, das ist einfach unglaublich."
Dabei war Healys Strategie riskant. „Er ist die letzten 30 Kilometer durchgefahren, ohne aus der Führung zu gehen“, beschreibt Wegmann. Die Rechnung ging nur halb auf: Zwar reichte es nicht zum Tagessieg, den sich Simon Yates sicherte, doch mit Rang drei und einem taktisch clever agierenden Team reichte es zum Gelben Trikot.
Holger Gerska hebt hervor, dass Healys Mannschaft – EF Education-EasyPost – ein "Wahnsinnsrennen" gefahren sei. "Drei Leute, die er noch dabei hatte, sind den ganzen Tag Vollgas von vorne gefahren." Am Ende wurde dieses Engagement belohnt: "Es war denkbar knapp", so Wegmann, "aber es hat gereicht."

Visma - Lease a Bike auf dem Vormarsch

Die Aufmerksamkeit richtet sich schnell auf das Team Visma - Lease a Bike. Gleich zwei Fahrer in der Fluchtgruppe, Etappensieg durch Yates und starke Auftritte von Jonas Vingegaard und Matteo Jorgenson – ein fast perfekter Tag. Doch der entscheidende Zeitgewinn gegen Pogacar blieb aus.
"Wir wollten eine schwere Etappe, das war der Plan," erklärt Grischa Niermann, sportlicher Leiter des Teams. "Jonas hat sich gut gezeigt, Matteo auch. Es lief alles nach Plan." Auch zur Frage, wie schwer Pogacar zu schlagen sei, bleibt Niermann realistisch: "Tadej hat noch 1:20 Minuten Vorsprung, das wird schwer. Aber wir glauben an unsere Chance."
Interessant: Niermann erkennt keine Schwäche bei Pogacar, sieht aber sein eigenes Team im Vorteil. "Wir sind ihm als Mannschaft überlegen. Jonas ist locker, kann alle Attacken mitgehen."

Jonas Vingegaard: Selbstbewusst, aber realistisch

Der Däne zeigt sich nach der Etappe entspannt. "Wir haben ein starkes Team, und meine Beine sind gut," sagt Vingegaard. Anders als bei der Dauphiné-Rundfahrt habe er diesmal alle Attacken Pogacars parieren können. "Das zeigt, dass ich ein besseres Level habe."
Trotzdem bleibt sein Rückstand bestehen. Noch hat er keine eigene Attacke gesetzt, die Pogacar nicht mitgehen konnte. Das Thema beschäftigt auch die Runde im Podcast. "Die Frage ist: Kann Jonas Vingegaard eine Attacke setzen, bei der Pogacar nicht mitkommt?" fragt Michael Ostermann. Noch sei es nicht dazu gekommen, aber die großen Alpenetappen stehen bevor.
Holger Gerska fasst es so zusammen: "Aus Pogacars Sicht ist das eine Tunnelsicht: Er muss nur auf Vingegaard aufpassen." Alles andere, wie Evenepoel oder Jorgenson, sei sekundär. "Der wird ihm erstmal nicht davonfahren, und das reicht."

UAE-Team: Stark, aber angeschlagen

Auf der anderen Seite zeigt sich UAE nicht unverwundbar. Zwar konnte Tadej Pogacar erneut eine beeindruckende Attacke setzen, doch das Team zeigte Schwächen. Holger Gerska beschreibt es treffend: "Das Team ist angenockt."
Almeida ist ausgeschieden, Sivakov krank, Politt steht unter unfassbarer Belastung. "Zehn Etappen mit dieser Combo, das wird nicht gut gehen", so Gerska. Wegmann lobt zwar insbesondere Nils Politt: "Der ist gefahren wie ein Moped", sieht aber ebenfalls strukturelle Probleme. "Das Pendant zu Jorgenson fehlt."
Dass Pogacar trotz allem locker blieb, betonen alle. Er scherzt mit Journalisten, gibt Interviews auf dem Rad und lacht mit seinem Team. "Sie werden Kaffee trinken und Witze reißen am Ruhetag", glaubt Wegmann.

Florian Lipowitz: Junge Hoffnung mit Potenzial

Auch deutsche Fahrer stehen im Fokus. Florian Lipowitz, der sich lange in der Favoritengruppe halten konnte, zeigte erneut eine starke Vorstellung. Im Ziel erklärt er im ARD-Interview: "Es war super hart, aber ich hatte gute Beine. Ich denke, wir können zufrieden sein."
Teamleiter Rolf Aldag ist vorsichtig optimistisch. "Lipo hat es ein-, zweimal selbst versucht und ist mit den Favoriten angekommen. Wir müssen ihm nur manchmal die Zügel anlegen, damit er nicht bei jeder Bewegung reagiert." Mit Platz acht in der Gesamtwertung ist Lipowitz derzeit bester Deutscher.
Holger Gerska analysiert: "Es wird peu à peu realistischer, dass er um Platz 5, 6 oder 7 fahren kann, wenn ihm nichts passiert." Auch Fabian Wegmann hebt hervor, dass Lipowitz Fahrer wie Evenepoel oder Roglic im Blick hat und aktuell im Griff hat. "Da geht es in Richtung Podium."
Im Gespräch mit Bernd Arnold zeigt sich Rolf Aldag zwar zufrieden mit dem Auftritt seines Teams, aber auch bemerkenswert kontrolliert. „Glücklich? Sagen wir mal zufrieden“, relativiert er nüchtern. Auch Roglic sei defensiv gefahren. Für Aldag steht fest: „Wir sind noch keinen einzigen richtig großen Berg gefahren.“ Seine Botschaft: Die Leistungsprüfung steht erst noch bevor – auch für die deutschen Podiumshoffnungen.

Taktisches Spiel: Der Weg zur dritten Woche

Die Podcastrunde ist sich einig: Noch ist nichts entschieden. "Die ganz großen Hochgebirgsetappen kommen erst noch," mahnt Casalette. Gerska ergänzt: "UAE hat heute schon mehr aus dem Tank genommen als Visma."
Das Ziel Visma - Lease a Bikes: Pogacar isolieren, sein Team müdemachen und in Woche drei angreifen. "Sie werden das noch mal versuchen – das war nicht das letzte Mal", sagt Wegmann. Ob es klappt, hängt auch davon ab, ob Vingegaard selbst zur Offensive übergeht.
Dabei sei das Team Visma personell und taktisch hervorragend aufgestellt. Gerska hebt hervor, dass Fahrer wie Sepp Kuss oder Wout Van Aert ihre Rollen noch nicht voll ausgespielt haben. "Ich ahne, dass van Aert für Etappen, die da noch kommen, unter Umständen auch mal eine andere Rolle spielen wird."

Nebenkriegsschauplätze: Bergtrikot und taktische Manöver

Auch die Jagd nach dem Bergtrikot liefert Geschichten. Lenny Martinez übernimmt das Gepunktete, 48 Jahre nach seinem Großvater. "Er ist super gefahren, aber ein bisschen zu tief gegangen bei den Sprints", urteilt Wegmann. "Wenn er Punkte holt, sollte er danach die Beine hochnehmen."
Ein weiteres Gesprächsthema: Nasenpflaster. "Die gehen in den Neunzigern los, jetzt sind sie wieder da", so Casalette. Einige Fahrer bemalen sie sogar kreativ, etwa in den Farben der Trikolore. Wegmann bleibt skeptisch: "Ich habe nie welche getragen. Ich atme durch den Mund."

Pyrenäen im Blick: Die Tour tritt in ihre entscheidende Phase

Während der Ruhetag bei den meisten Teams willkommen ist, stellt sich die Frage, wie die Favoriten die bevorstehenden Schlüsseltage in den Pyrenäen taktisch angehen werden. „Am Mittwoch müssen sie erstmal nichts machen, da müssen sie nicht das Trikot verteidigen“, sagt Fabian Wegmann über das UAE Team Emirates - XRG. Und doch ist der Druck präsent. Denn die Pyrenäen-Etappen am Donnerstag und Samstag, flankiert vom Einzelzeitfahren am Freitag, markieren die vielleicht entscheidende Trilogie dieser Tour.
Moritz Casalette bringt es im Podcast auf den Punkt: „Ich will diese Etappe heute nicht kleinreden, das war eine super schwere Etappe, aber die ganz großen Hochgebirgsetappen kommen noch – und trotzdem war UAE heute schon ein bisschen im Struggle.“ Genau darin liegt die Hoffnung aus neutraler Sicht: Dass der Favorit Pogacar und sein Team vielleicht doch verwundbar sind, wenn die Höhenmeter extremer werden und die Renntage an Substanz zehren.
Holger Gerska sieht eine klare Entwicklung: „Sie haben ein bisschen mehr aus dem Tank genommen als Visma.“ Ein Satz, der andeutet, wie strategisch die Kräfte derzeit eingeteilt werden. Während Visma-Lease a Bike auf kollektiv starke Beine setzt und Jonas Vingegaard als stabilen Konterpart zu Pogacar präsentiert, scheint UAE zunehmend isoliert. Das führt zur Frage, wann Vingegaard den Moment findet, selbst zu attackieren – nicht nur zu reagieren.
„Der einzige, der Pogacars Attacken folgen kann, ist Vingegaard. Aber kann er selbst eine setzen, die Pogacar nicht mitgehen kann?“, fragt Michael Ostermann. Bisher blieb diese Szene aus. Doch das Terrain, das nun folgt, bietet Gelegenheit. Ob sie genutzt wird, bleibt das große Fragezeichen – aber auch die größte Spannung der Tour.

Die Spannung steigt

Die zehnte Etappe der Tour de France 2025 bot einen Vorgeschmack auf die Dramatik, die in den kommenden Tagen noch bevorsteht. Ben Healy ist das Gesicht der Stunde, doch die Hauptrolle im Drama um das Gelbe Trikot spielen weiterhin Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard. Die eine Frage bleibt offen: Wird Vingegaard irgendwann selbst die Initiative ergreifen können?
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