Tim Merlier hat sich daran gewöhnt, Erwartungen zu übertreffen. Am Mittwoch gewann der 32-jährige Belgier die Auftaktetappe der
Baloise Belgium Tour – und damit mehr als nur ein Tagesrennen: Er sicherte sich seine zweite Chance bei der
Tour de France. Im kommenden Monat wird er gemeinsam mit
Remco Evenepoel im Trikot von
Soudal - Quick-Step auf Sprintsiegjagd gehen.
Sein erster Auftritt bei der Tour liegt bereits vier Jahre zurück – 2021 triumphierte Merlier auf einer chaotischen Etappe in Pontivy. Seitdem blieb ihm die Rückkehr verwehrt. Umso bedeutender ist diese Nominierung jetzt – sie ist Ergebnis einer unbeirrbaren Karriere, geprägt von Durchhaltevermögen, Loyalität und dem Glauben einiger weniger an sein Potenzial.
„Der Weg an die Weltspitze war lang und unvorhersehbar“, schreibt der belgische Journalist Hugo Coorevits bei Wielerflits. Noch vor sechs Jahren fuhr Merlier regionale Kirmesrennen, meist unbeachtet, im schwarzen Trikot. Die Profiteams hatten ihn nicht auf dem Radar. Doch Mario De Clercq, einst Cyclocross-Weltmeister, hielt an ihm fest – selbst dann, wenn niemand mehr hinsah. „Seine ersten Meter sind phänomenal. Jeder, der nicht an seinem Rad ist, verliert sofort zwei Radlängen“, sagt De Clercq.
Merlier war wohl der schnellste Sprinter des Jahres 2025
Christoph Roodhooft war schließlich derjenige, der Merlier bei Corendon-Circus eine Bühne bot – einem kleinen Continental-Team rund um Mathieu van der Poel. Drei Wochen später sprintete Merlier in Gent zum belgischen Meistertitel und ließ mit Dupont und Van Aert prominente Namen hinter sich. Der Durchbruch war geschafft – ein Traumstart blieb dennoch aus.
Im Team galt die Aufmerksamkeit dem jüngeren Jasper Philipsen, der als Zukunft des Sprints galt. Zwar fuhr Merlier 2021 einen Etappensieg bei der Tour de France ein, doch 2022 war klar: Philipsen hatte die interne Hierarchie gewonnen. Merlier musste gehen.
Soudal - Quick-Step erkannte das Potenzial. Nach dem Abschied von Mark Cavendish suchte Teamchef Patrick Lefevere einen erfahrenen Sprinter – und fand ihn in Merlier. In einem Team, das für Disziplin, aber auch für Kameradschaft bekannt ist, blühte er auf. „Innerhalb von Soudal – Quick-Step hat er sich zu einem Anführer und Stimmungsmacher entwickelt“, so Coorevits. Vor der Kamera wirkt Merlier zurückhaltend – intern ist er längst Teil des Kerns. „Bei Patrick Lefevere ist er endlich zu Hause.“
Diese neue Heimat bietet ihm jedoch nicht den Komfort eines dominanten Sprintzugs à la Philipsen oder Milan. Doch das entspricht ohnehin nicht Merliers Stil. „Merlier ist auch ein Champion, der wenig braucht“, schreibt Coorevits. Sein Erfolgsrezept: kluge Positionierung, ein explosiver Antritt und das Vertrauen in den ersten, entscheidenden Tritt.
Die diesjährige Tour de France wird zur Bewährungsprobe. Die erste Etappe ist flach – eine seltene Gelegenheit für Sprinter, das Gelbe Trikot zu erobern. Merlier trifft auf Milan, Philipsen und Girmay – ein harter Wettbewerb, aber kein unlösbarer.
Gleichzeitig ist Merliers Auswahl mehr als sportliche Taktik – sie ist Symbol. Seine Karriere zeigt, dass Talent nicht allein in Wattwerten messbar ist. „Mein Bauchgefühl hat mir gesagt, dass Tim es verdient hat“, erinnert sich De Clercq. Und Christoph Roodhooft hatte den Mut, dieses Bauchgefühl zu bestätigen.
Jetzt stellt sich nur noch eine Frage: Kann Tim Merlier bei der Tour de France 2025 endlich jene Kampagne fahren, die seiner Klasse gerecht wird?