Die sechste Etappe der Vuelta a España 2025 hatte alles, was eine Grand Tour ausmacht: eine dominante Ausreißerleistung, einen neuen Mann im Roten Trikot und den plötzlichen Einbruch eines vermeintlichen Superstars. Jay Vine vom UAE Team Emirates – XRG feierte in Andorra einen Solosieg, während Torstein Træen überraschend die Gesamtführung übernahm. Jonas Vingegaard wirkte gelassen, João Almeida präsentierte sich kämpferisch, und Juan Ayusos Ambitionen implodierten spektakulär.
Von Beginn an war klar, dass Vine der Fahrer war, auf den man achten musste. Schon früh hieß es im Peloton: „Jay Vine gewinnt diese Etappe, das sieht man nach zehn Minuten in der Gruppe.“ Der Australier setzte sich in typischer Vine-Manier ab und ließ seine Konkurrenten stehen. Für die Analysten
Johan Bruyneel und Spencer Martin war es ein absehbarer, aber beeindruckender Erfolg. Bruyneel betonte, Vine habe wohl bewusst auf den ersten Etappen Zeit verloren, um sich Chancen in Ausreißergruppen zu sichern – ein Plan, der aufging.
Mit diesem Sieg unterstrich Vine seinen Ruf als Vuelta-Spezialist. „Es war sein dritter Erfolg hier – zwei 2022, und jetzt wieder einer“, erinnerte Martin. Nach dem Triumph im Mannschaftszeitfahren war es bereits der zweite Etappensieg in Folge für UAE. Vine bestätigte damit seinen Status als einer der zuverlässigsten Bergetappenjäger des Pelotons.
Noch bemerkenswerter war jedoch der zweite Platz von Torstein Træen, der ihm das Rote Trikot einbrachte. Der Norweger, einst Hodenkrebspatient, feierte den größten Moment seiner Karriere. „Eine unglaubliche Geschichte“, lobte Bruyneel. „Er fährt seit Jahren im Stillen starke Ergebnisse ein.“ Martins Einschätzung unterstrich die Dimension: „Letztes Jahr hat er die Königsetappe der Tour de Suisse gewonnen, und nun führt er die Vuelta. Das ist riesig.“
Im Kampf um die Gesamtwertung sah Vingegaard wie gewohnt souverän aus. „Visma war das stärkste Team“, urteilte Bruyneel. „Jonas stand nie unter Druck, er wirkte locker.“ Gleichzeitig stellte er die Frage, ob der Däne wirklich voll gefahren sei oder bewusst Kräfte schonte. João Almeida hingegen bewies einmal mehr seine Zähigkeit: Erst verlor er den Anschluss, dann kämpfte er sich zurück. „Ein klassischer Almeida-Anstieg“, sagte Bruyneel. „Nicht supersteil, aber hart und schnell – genau sein Terrain.“
Der große Verlierer des Tages war
Juan Ayuso. Schon vor der Vuelta hatte er selbst eingeräumt, nicht optimal vorbereitet zu sein. Nun brach er ein und fiel weit zurück. Bruyneel nahm kein Blatt vor den Mund: „Er ist nicht in der Form, um bei dieser Vuelta vorne mitzufahren.“ Noch schwerer wog für ihn die Haltung des Spaniers. „Es geht bei Ayuso immer nur um ihn selbst. Kaum ein Wort über das Team“, kritisierte er. Martin verwies auf ein Interview, in dem Ayuso nicht einmal wusste, dass sein Teamkollege Vine gewonnen hatte – ein alarmierendes Signal.
Die zentrale Frage lautet nun: Wird Ayuso für Almeida fahren? Bruyneel stellte klar: „Im Moment sollte er kein Leader bei einer Grand Tour sein. Einwöchige Rundfahrten liegen ihm, aber eine dreiwöchige Tour ist eine andere Dimension.“ Trotzdem bleibt sein Potenzial unbestritten. Mit 19 Jahren wurde er bereits Dritter der Vuelta – ein Beweis seiner Klasse. Doch seither hat er bei großen Rundfahrten enttäuscht. Bruyneel erwartet nun, dass Ayuso seine Rolle anpasst: „Bei 80 Prozent Form kann er für UAE immer noch enorm wertvoll sein.“
Für UAE bleibt der Kontrast zwischen Jubel und Krise prägend. Zwei Etappensiege in Serie, aber ein Anführer aus dem Rennen um das Podium – die Vuelta hält für die Mannschaft beides bereit. „Die Atmosphäre muss trotzdem unglaublich sein“, meinte Martin. „Sie gewinnen Etappen, auch wenn Ayuso strauchelt.“
Im Duell um den Gesamtsieg setzte Bruyneel klar auf Vingegaard: „Er ist der beste Fahrer, der beste Kletterer. Für mich der Topfavorit.“ Martin warnte jedoch: „Wer glaubt, einen Vorteil gegen Almeida zu haben, muss ihn nutzen. Wartet man zu lange, könnte man es bereuen.“
So bleibt die Vuelta spannend – ein Rennen, das sich langsam, aber unaufhaltsam aufheizt. Oder wie es Bruyneel formulierte: „Es wird langsam heiß. Noch ist es kein Flammenmeer, aber das Brodeln hat begonnen.“