Lidl-Trek-Teamchef
Luca Guercilena fordert die Radsport-Instanzen zu einem Sicherheitsneustart auf und kritisiert, dass der Sport in einem Kreislauf meinungsbasierter Flicklösungen feststeckt statt evidenzbasierter Ansätze.
Im Gespräch mit Bici.Pro skizzierte er einen markanten Vorschlag: massiv in Airbag-Technologie zu investieren, integriert in Helme oder Trikots, um Fahrer vor den schwersten Verletzungen zu schützen.
„In Technologie investieren, um einen Airbag im Helm oder im Trikot zu haben, der bei einem Sturz Kopf und Wirbelsäule schützt“, sagte Guercilena. „Ich würde Berge von Geld in universelle Airbag-Systeme stecken, die Fahrer bei einem Sturz schützen und die Verletzung verhindern. Denn Stürze werden immer Teil unseres Sports sein.“
Es ist eine kühne Idee, die jedoch direkt das zentrale Dilemma des modernen Pelotons trifft: Die Geschwindigkeiten steigen, die Fahrer sind jünger, das Feld ist kompakter, und Massenstürze scheinen häufiger — auch wenn die absolute Zahl der Frakturen nicht zugenommen hat.
Warum Guercilena glaubt, dass der Radsport das falsche Problem angeht
Guercilena argumentiert, die Debatte über eine Verlangsamung des Pelotons sei fehlgeleitet. Verbände griffen zu kosmetischen Maßnahmen oder hastigen Vorschlägen ohne wissenschaftliche Basis. Wer Risiken wirklich adressieren wolle, müsse mit Daten beginnen und systematisch vorgehen.
„Wir bauen alles auf Meinungen auf und treten auf der Stelle“, warnte er. „Eine Analyse hat nur Wert, wenn sie wissenschaftlich ist. Wenn ich Kriterien anwende, die Sinn ergeben, sind harte Zahlen nicht angreifbar. Das Problem ist: Wir haben keine Langzeitstatistiken.“
Zur Untermauerung führte Guercilena an, dass Lidl-Trek mit dem medizinischen Stab bereits eigene mehrjährige Daten erhebt — mit dem Ergebnis, dass Fahrer nicht häufiger Knochen brechen, aber aufgrund moderner Renndynamiken deutlich mehr Fahrer in denselben Sturz verwickelt sind.
„Es stimmt nicht, dass es mehr Stürze gibt“, sagte er. „Geändert hat sich die Zahl der Fahrer, die im selben Sturz landen. Alle sind frischer, alle besser trainiert, und das Feld ist extrem kompakt. Wenn einer fällt, fallen alle zusammen.“
Lidl-Trek hat sich in den vergangenen Saisons zu einem der stärksten Teams im Peloton entwickelt
Ein kultureller ebenso wie ein technischer Wandel
Über das Material hinaus sieht Guercilena einen wenig diskutierten Faktor in der Reife der Fahrer. Das Durchschnittsalter der WorldTour-Kader sinkt deutlich. 18- und 19-Jährige springen direkt von Juniorendistanzen zu Milano–Sanremo — oft ohne die schrittweise Entwicklung früherer Generationen.
„Die Unbekümmertheit eines 18-Jährigen prallt auf die Reife älterer Fahrer“, sagte er. „Wir befördern Jungs, die von 90-Kilometer-Juniorenrennen auf 290 Kilometer in San Remo gehen. Physiologisch ist ihre Klarheit nach dieser Distanz eine ganz andere.“
Deshalb hat Lidl-Trek die interne Ansprache angepasst. „Wir sagen ihnen: Risiko muss kontrolliert sein. Wenn die Wahl lautet, dich drei Monate zu verlieren oder Zweiter zu werden, dann werde Zweiter“, erklärte er. „Wenn du für einen Sprint, der das Rennen gewinnt, riskieren musst, nur zu. Aber 70 Kilometer vor dem Ziel zu stürzen und einen Monat auszufallen — auf keinen Fall.“
Warum Materialbegrenzungen nicht funktionieren werden
Während Teile der
UCI für Ausrüstungsbeschränkungen oder Limits beim Rahmendesign plädieren, sieht Guercilena darin nur temporäre Pflaster statt substanzielle Verbesserungen.
„Geschwindigkeitsgewinne sind inhärent mit Leistungstechnologie verbunden“, sagte er. „Wenn man ein Material limitiert, entwickelt die Forschung einfach ein anderes, das genauso schnell ist. Wenn man 35-mm-Felgen vorschreibt, macht die Ingenieurkunst diese so aerodynamisch und trägheitsstark wie 90-mm-Modelle. Diese Limits werden nie langfristige Lösungen sein.“
Stattdessen müsse die Priorität zweigleisig sein:
1) Schutz der Fahrer im Sturzfall, und
2) Verbesserung gefährlicher Straßeninfrastruktur, wo möglich.
„Ausgangspunkt muss sein zu identifizieren, was Fahrer wirklich schützt, und dann nach unten zu arbeiten“, sagte er. „Zuerst kommt der Fahrer, dann die Straße.“
Die fehlende Basis: Dem Radsport mangelt es an echten Sturzdaten
Eine der schärfsten Kritiken Guercilenas an der aktuellen Sicherheitsdebatte ist das Fehlen eines verlässlichen, langfristigen statistischen Rahmens. Ohne diesen versuche der Sport, ein Problem zu lösen, das er nicht sauber vermessen habe.
„Haben wir eine analytische Studie, die seit den 1970er-Jahren einen drastischen Anstieg der Stürze zeigt?“, fragte er. „Reden wir über die Folgen einzelner Stürze oder über die Gesamtzahl der beteiligten Fahrer und die Schwere der Verletzungen? Es gibt keine Langzeitstatistiken.“
Genau deshalb, so Guercilena, drehten sich Gespräche im Kreis: Verbände diskutierten Meinungen statt Evidenz, Teams reagierten auf Wahrnehmung statt auf Fakten. Selbst grundlegende Fragen — ob Stürze häufiger in den ersten Rennstunden oder in den Schlusskilometern auftreten — bleiben unbeantwortet.
„Wir können nicht sagen, ob wir mehr in den ersten 100 Kilometern stürzen oder in den letzten 20“, sagte er. „Ich vermute, am Anfang ist es Ablenkung, am Ende das Sprint-Risiko — aber das bleibt eine Meinung. Und mit Meinungen findet man keine Lösungen.“
Für Guercilena ist ein formelles Arbeitsgremium aus Teams, Fahrern, Agenten und unabhängigen Experten der einzige Weg, die Evidenzbasis zu schaffen, die der Sport dringend braucht.
Straßen, Streckendesign und die strukturellen Probleme, für die niemand zahlen will
Jenseits von Material und Fahrerkultur beharrt Guercilena darauf, dass der Radsport das Umfeld adressieren muss, in dem er stattfindet — etwas weitaus schwieriger und teurer als an Bike-Regeln zu schrauben. „Mehr Aufmerksamkeit für seitliche Schutzsysteme würde enorm helfen“, sagte er. „Wenn es ein wirksames System gäbe, um bestimmte Punkte sicherer zu machen, würde das trotz hoher Kosten einen riesigen Unterschied ausmachen.“
Er argumentiert, dass die Verbesserung von Absperrungen oder die Neugestaltung gefährlicher Stadtpassagen substanzielle finanzielle Mittel erfordert, aber genau solche strukturellen Eingriffe die schlimmsten Unfallfolgen verhindern könnten. Oft werde das ignoriert, weil es für Veranstalter und Verbände am schwierigsten umzusetzen ist.
Guercilena zieht einen Vergleich zur Formel 1: Dort stand zunächst der Fahrerschutz im Fokus, dann wurde systematisch die Strecken-Infrastruktur verbessert — lange bevor Leistungsbegrenzungen diskutiert wurden. „Der Ausgangspunkt muss sein, was Fahrer wirklich schützt, und davon ausgehend arbeitet man nach unten“, insistierte er. „Der Fahrer kommt zuerst, dann die Straße.“
Die Quintessenz
Guercilenas Haltung ist klar: Der Radsport kann steigenden Geschwindigkeiten nicht mit Verboten, Beschränkungen oder Regulierung entkommen. Instinkt und Anekdoten tragen ebenso wenig. Der Sport braucht datengetriebene Analysen, besseren Straßenrandschutz und einen technologischen Sprung bei fahrerzentrierter Sicherheit.
Sein Airbag-Konzept mag futuristisch klingen — aber das taten einst auch feuerfeste Anzüge, Head-and-Neck-Systeme und Monocoques aus Carbon in der Formel 1. Aus Guercilenas Sicht ist es das eigentliche ideologische Risiko, solche Möglichkeiten zu ignorieren.
Wenn Sie eine Anschlussgeschichte mit Fokus auf den kulturellen Wandel im jüngeren Peloton, die Materialdebatte oder den Widerstand der WorldTour gegen Strukturreformen wünschen, kann ich diese ebenfalls liefern.