Im strömenden Regen von La Plagne erlebte
Florian Lipowitz gestern einen Schlüsselmoment seiner noch jungen Tour de France-Karriere. Die 19. Etappe der Grand Boucle 2025 wurde zum Schülerzimmer eines 24-jährigen Schwaben, der mit beeindruckender Coolness, taktischer Reife und körperlicher Widerstandsfähigkeit nicht nur seinen dritten Platz in der Gesamtwertung festigte, sondern diesen gegenüber
Oscar Onley um über eine Minute ausbaute. Der Podcast
"Sportschau Tourfunk" der ARD, moderiert von Moritz Casalette, widmete diesem Schlüsselmoment der Tour eine ausführliche Analyse. Mit dabei: Reporter Holger Gerska, die Experten Fabian Wegmann und
Simon Geschke sowie Interviews mit Florian Lipowitz, Rolf Aldag und
Liane Lippert.
Kampf gegen das Wetter, gegen Onley – und gegen sich selbst
„Dauerregen hier oben in La Plagne, 8 Grad“ – so beschrieb Holger Gerska die Szenerie. Und doch schien Lipowitz davon unbeeindruckt. In einem packenden Schlussanstieg konnte er den direkten Kontrahenten Oscar Onley distanzieren. Gerska beobachtete ein zähes Ringen: „Es sah lange so aus, als wäre der Brite stärker, aber dann fiel er zurück, und Lipowitz attackierte.“
Diese Attacke brachte ihn nicht nur vor Onley, sondern ließ ihn das Tempo von Vingegaard und Pogacar mitgehen – die beiden größten Namen der jüngeren Tour-Geschichte. Der Etappensieg ging zwar an Thymen Arensman, doch die eigentliche Geschichte des Tages schrieb Florian Lipowitz.
Hat sich nach einem Rückschlag auf der 18. Etappe in beeindruckender Verfassung zurückgemeldet: Florian Lipowitz
Fast gestürzt: Die Schrecksekunde kurz vor dem Ziel
Ein Moment des Schocks: Kurz vor der Ziellinie rutschte Lipowitz beinahe weg. Fabian Wegmann erinnert sich: „Ich dachte, der hat sich jetzt da hingelegt. Da waren Zebrastreifen mit Tourfarben bemalt, und die müssen wohl sehr glatt gewesen sein.“
Lipowitz selbst schilderte die Situation im Interview mit ARD-Reporter Michael Antwerpes: „Ich bin gesprintet und auf der Straße war irgendeine Bemalung, dann ist das Hinterrad weggerutscht. Zum Glück ist nichts passiert und ich konnte auf dem Rad bleiben.“ Der Zwischenfall machte deutlich: Auch in brenzligen Momenten behält er die Nerven.
Entwicklungen im Gesamtklassement
Am letzten Tag in den Bergen blieb das große Spektakel aus – das
UAE Team Emirates - XRG kontrollierte das Rennen souverän, ließ keine ernsthaften Angriffe auf das Gelbe Trikot zu und hielt das Tempo hoch genug, um größere Zeitunterschiede zu verhindern. Damit ist Tadej Pogacars Gesamtsieg zwei Tage vor dem Finale praktisch besiegelt – und das ohne ein klassisches Hochgebirge-Finale.
Florian Lipowitz konnte seinen dritten Platz in der Gesamtwertung verteidigen und den Vorsprung auf Oscar Onley sogar leicht ausbauen. Mit nun über einer Minute Polster geht der Deutsche in die letzten beiden Etappen – ein starkes Signal, dass der Podestplatz in Paris tatsächlich realistisch ist.
Primoz Roglic hingegen erlebte einen bitteren Tag: Der Slowene fiel von Rang fünf auf acht zurück, während Felix Gall, Tobias Johannessen und Kévin Vauquelin je eine Position gutmachten. Johannessen schob sich vom achten auf den sechsten Platz und zog auch an Vauquelin vorbei. Die Top10 werden komplettiert durch Ben Healy und Ben O'Connor.
Geschke beeindruckt: „Wie ein Routinier“
Simon Geschke, ehemaliger Radprofi und Spezialgast im Studio, war sichtlich beeindruckt von Lipowitz' Leistung: „Es war eine Zitterpartie. Onley war im Zugzwang. Lipowitz hatte bei der ersten Attacke eine kleine Lücke, aber hinten raus war er wieder da. Dass er so ruhig bleibt, das ist schon ein Talent.“
Er lobte insbesondere das taktische Gespür: „Er hat fast absichtlich nicht überpaced, sondern gepokert, dass sich Pogacar und Vingegaard anschauen. Genau das ist passiert. Er ist abgeklärt wie ein Routinier.“
Das sagt der Mann der Stunde: Lipowitz im Interview
In einem reflektierten Gespräch mit Michael Antwerpes zeigte sich Lipowitz realistisch und fokussiert:
„Ich wollte es heute nicht überziehen und wusste, wenn die sich wieder anschauen, dass ich zurückkomme.“
„Ich bin mehr als zufrieden mit heute. So viele deutsche Fans hier an der Strecke trotz des schlechten Wetters – das war unglaublich.“
„Klar, ich habe mir selbst viel Druck gemacht. Ich wusste, dass ich heute abliefern muss.“
Abschließend wurde der deutsche Youngster in einer Radsport-Geschichtsprüfung auf die Probe gestellt: „Ich schätze mal, Jan Ullrich war der letzte Deutsche auf dem Podium?“ – Kenner wissen: Die richtige Antwort lautet Andreas Klöden.
Rolf Aldag: „Ein Bombeneinstand“
Auch Rolf Aldag, sportlicher Leiter bei
Red Bull - BORA - hansgrohe, war im Podcast zu hören und zeigte sich beeindruckt, zugleich aber vorsichtig:
„Paris ist erst nach der letzten Überfahrt auf der Champs-Élysée erreicht.“
„Nach gestern war nicht klar, was heute passieren würde. Aber er hat es super gemacht.“
„Wenn wir mit ihm aufs Podium kommen, ist das Ziel erfüllt. Und das mit einem Fahrer, der für uns die Zukunft ist – umso schöner.“
Aldag warnte zugleich: „Eine Minute Vorsprung ist besser als eine Minute Rückstand, aber noch ist nichts entschieden.“
Eine Frage des Instinkts: Der Lernprozess des Florian Lipowitz
Sowohl Fabian Wegmann als auch Simon Geschke attestierten Lipowitz ein enormes Lernvermögen:
„Er regeneriert unglaublich schnell. Gestern komplett leergefahren, heute so eine Leistung.“ (Wegmann)
„Er kennt seinen Körper sehr gut. Er spricht davon, sich einzupacen und seine Pace zu fahren.“ (Wegmann)
„Schon wie er mit der Situation umging, als er das Tempo von Pogacar nicht mitgehen konnte und wusste: Ich komme zurück, wenn sie sich anschauen.“ (Geschke)
Fragezeichen um Pogacar
Die 19. Etappe offenbarte auch eine ungewohnte Seite des Superstars
Tadej Pogacar. Während Beobachter am Streckenrand erwarteten, dass der Slowene im Finale zum gewohnten Angriff ansetzen würde, blieb dieser aus. Fabian Wegmann analysierte: „Der hat den ganzen Berg von vorne gefahren, hat Tempo gemacht, aber gar nicht mehr attackiert.“ Simon Geschke bestätigte den Eindruck: „Er war nicht der Pogacar der letzten Wochen. Auf dem Podium hat er nicht gelacht, beim gelben Trikot hat er nur ein Foto gemacht und ist direkt gegangen.“
Die Erklärung folgte in der Analyse: Pogacar sei deutlich angeschlagen, zeigte Symptome einer Erkältung und trat in der Pressekonferenz nur kurz auf. „Er hatte eine dicke Jacke an, eine Mütze auf, hat nasal gesprochen – dem geht es wirklich nicht gut“, so Wegmann. Auch im Rennen selbst wurde deutlich, dass der Slowene physisch nicht bei hundert Prozent war. Geschke: „Er hat nicht mal versucht, Arensman einzuholen, obwohl er nur 30 Sekunden weg war. Normalerweise holt er das auf einem Kilometer.“
Diese unerwartete Schwäche veränderte nicht nur das Renngeschehen, sondern auch die Dynamik unter den Favoriten. Arensmans Etappensieg wurde dadurch begünstigt – und für Fahrer wie Lipowitz öffnete sich ein kleines Fenster, um nicht nur mitzufahren, sondern aktiv das Rennen zu gestalten.
Eine Tour der Persönlichkeiten – auch abseits der Strecke
Der Podcast erlaubte auch einen Blick hinter die Kulissen. So wurde über
Geraint Thomas gesprochen, der seine letzte Tour fährt. Moritz Casalette schilderte, wie der Brite nach dem Rennen aus dem Bus kam, um Fotos mit Fans zu machen, viel lachte und sichtlich gelöst wirkte. „Er muss sich nie wieder einen Berg hochquälen – da kann man auch mal einen Strich drunter machen“, so Casalette.
Oscar Onley: Stark, aber unterlegen
Auch Oscar Onley zeigte eine starke Leistung, konnte am Ende aber nicht mit Lipowitz mithalten. Fabian Wegmann: „Am Anfang sah es so aus, als könne er es wieder schaffen. Vielleicht ist er einmal zu tief gegangen bei einer Attacke.“
Holger Gerska betonte die Qualität des Schotten: „Er ist 22, Lipowitz 24. Onley hat ein starkes Team, aber was Lipowitz hier zeigt, ist unglaublich.“
Arensman triumphiert
Der Tagessieg ging an Thymen Arensman, der sich mit Mut und Hartnäckigkeit gegen die Giganten Pogacar und Vingegaard durchsetzte. Geschke: „Normalerweise hat man keine Chance, wenn die 30 Sekunden hinter einem sind. Aber Pogacar war einfach nicht bei 100 Prozent.“
Wegmann ergänzte: „Er hat das ganze Finale von vorne gefahren und dann nicht attackiert. Sehr ungewöhnlich.“
Der Blick nach vorn: Was bringt Etappe 20?
Die nächste Etappe verspricht erneut Spannung. 3.000 Höhenmeter stehen an, die Strecke ist bekannt aus dem Critérium du Dauphiné. Aldag: „Die Etappe hat
Jonas Vingegaard schon mal gewonnen. Kein typischer Massensprint.“
Geschke glaubt: „Es ist die letzte Chance für viele. 3000 Höhenmeter tun auch weh. Vielleicht versucht jemand noch mal alles gegen Pogacar.“
Wegmann: „Nur ein Sturz oder technisches Problem kann Lipowitz noch stoppen. Ich sehe Onleys Team nicht in der Lage, ernsthaft anzugreifen.“
Simon Geschke: Der scharfe Blick eines Tour-Routiniers
Simon Geschke brachte nicht nur Expertise ein, sondern auch spannende Einblicke aus dem Auge eines Tour-Routiniers:
„Die Stimmung an der Strecke ist unglaublich. Als Fahrer bekommt man das gar nicht so mit.“
„Es ist schon komisch, nicht mehr im Rennen zu sein, aber auch schön, das mal aus dieser Perspektive zu erleben.“
„Die Liste der Dinge, die ich nicht vermisse, ist länger als die, die ich vermisse.“
Tour de France Femmes: Auftakt mit deutscher Hoffnung
Am Samstag startet außerdem die Tour de France der Frauen. Liane Lippert zeigte sich in einem kurzen Interview-Ausschnitt im Rahmen der deutschen Meisterschaften optimistisch:
„Ich wurde Europameisterin auf dem gleichen Kurs. Wir haben hohe Erwartungen.“
Holger Gerska sieht sie als Mitfavoritin: „Wenn eine Etappe für sie gemacht ist, dann diese.“
Auch
Ricarda Bauernfeind und
Franziska Koch gehören zu den sieben deutschen Starterinnen. Neun Etappen stehen auf dem Plan, die ARD berichtet täglich.
Fazit: Ein Großer Tag für Florian Lipowitz
Diese 19. Etappe war ein Meilenstein für den jungen Deutschen. Trotz Kälte, Regen und Druck fuhr Florian Lipowitz mit Mut, Kontrolle und einem untrüglichen Instinkt. Der dritte Platz scheint zum Greifen nah, das Weiße Trikot in sicheren Händen. Die Tour de France 2025 hat einen neuen deutschen Helden gefunden – und die Radsportwelt staunt.