Grischa Niermann reagiert auf Zeitfahr-Enttäuschung von Jonas Vingegaard: „Wir müssen sehen, wie und wo wir das noch gutmachen können“

Radsport
durch Nic Gayer
Donnerstag, 10 Juli 2025 um 16:57
merijnzeeman
Von der Königsklasse im Kampf gegen die Uhr, über den strahlenden Weltmeister, bis hin zum stillen Rückzug eines Tour-Favoriten: Die fünfte Etappe der Tour de France 2025 hat für klare Verhältnisse gesorgt – und zugleich neue Fragen aufgeworfen. Mit diesen Themen beschäftigten sich in der neuesten Ausgabe des "Sportschau Tourfunk"-Podcasts Host Moritz Casalette und seine Experten Fabian Wegmann, Holger Gerska, Michael Ostermann und Michael Antwerpes.

Zeitfahren mit Goldglanz – Remco Evenepoel in Perfektion

„Der große Gewinner des Tages“, nannte Moderator Moritz Casalette ihn im Tourfunk der ARD-Sportschau – und niemand widersprach: Remco Evenepoel hat das Einzelzeitfahren der fünften Etappe von Caen nach Caen in atemberaubender Manier dominiert. Der belgische Weltmeister und Olympiasieger zeigte nicht nur sportlich, sondern auch visuell eine Machtdemonstration: „Dieses goldene Rad, das Regenbogentrikot, der Helm mit den dünnen Streifen – es sah einfach majestätisch aus“, schwärmte Casalette.
Fabian Wegmann, Ex-Profi und ARD-Experte, war ebenso beeindruckt: „Er hat auf dem Rückweg den Turbo gezündet. Der ist nur noch angetreten, gelenkt, angetreten, gelenkt – doppelte Geschwindigkeit im Vergleich zu denen hinter ihm.“ Besonders die Rückfahrt mit Rückenwind sei für Evenepoel zur Bühne geworden: „Was er da noch aufgeholt hat – das war beeindruckend.“
Dabei war der Anfang holprig. „Ich dachte erst: Das wird vielleicht nicht sein Tag“, so Wegmann. Doch Evenepoel bewies einmal mehr, warum er als einer der komplettesten Fahrer seiner Generation gilt.
Zeigte auf der 5. Tour-Etappe einmal mehr, warum er als bester Zeitfahrer der Welt gilt: Remco Evenepoel
Zeigte auf der 5. Tour-Etappe einmal mehr, warum er als bester Zeitfahrer der Welt gilt: Remco Evenepoel

Pogacar: Der ewige Sonnyboy mit Killerinstinkt

Und dann war da noch Tadej Pogacar – der Mann, der nicht nur stark, sondern auch smart fährt. Zwar unterlag er Evenepoel, doch sein eigener Auftritt war von solcher Qualität, dass auch er vom Tourfunk-Team als einer der „großen Gewinner des Tages“ gefeiert wurde. „Er muss momentan nur reagieren“, stellte Michael Ostermann fest. „Er kann warten – das liegt nicht in seiner Natur, aber er kann.“
Holger Gerska ergänzte: „Die machen heute Abend die Raupe. Das läuft einfach bei Pogacar.“ Gemeint war: Pogacar und sein UAE-Team wirken taktisch gereift, physisch stabil und mental überlegen. Dass der Slowene derzeit drei Trikots gewinnen könnte – gelb, grün und gepunktet - ist Ausdruck seiner Vielseitigkeit. Selbst das grüne Trikot scheint plötzlich greifbar, wie Gerska ausführte: „Philipsen ist raus, Milan punktet nicht in den Bergen – warum soll er das nicht holen?“

Vingegaards Tiefpunkt – Der Mitfavorit im Rückwärtsgang

Ganz anders die Stimmung bei Jonas Vingegaard. Der Däne verlor im Zeitfahren über eine Minute auf Pogacar und offenbarte dabei eine Schwäche, die sich möglicherweise nicht nur physisch erklären lässt.
„War das nur ein schlechter Tag?“, fragte Casalette. Fabian Wegmann wollte das nicht überbewerten: „Gestern war er super. Vielleicht ist er am Anfang einfach zu aggressiv losgefahren und hat sich im Gegenwind verausgabt.“
Die Unsicherheit war jedoch spürbar. Beim Team Visma - Lease a Bike herrschte Ratlosigkeit. Grischa Niermann, sportlicher Leiter, gab offen zu: „Eine Erklärung habe ich nicht. Wir haben gehofft, dass Jonas näher dran ist – aber das war leider nicht der Fall.“ Der Tonfall, wie Casalette berichtete, war deutlich: „Er hatte das Gesicht verzogen – nach dem Motto: Das war ein Scheißtag.“
Niermann sprach von einem Rückstand von über einer Minute auf Pogacar und einer offenen Zukunftsfrage: „Jetzt müssen wir sehen, wie und wo wir das noch gutmachen können.“

Florian Lipowitz: Die Entdeckung des Tages

Und dann kam Florian Lipowitz. Der 24-jährige Tour-Debütant aus dem Team Red Bull - BORA - hansgrohe überraschte mit einem herausragenden Zeitfahren – und ließ dabei sogar Jonas Vingegaard hinter sich.
Im Interview mit Bernd Arnold zeigte sich Lipowitz selbst überrascht: „Ich bin mehr als zufrieden. Nach den letzten Tagen, in denen ich an mir gezweifelt habe, ist das heute ein echter Lichtblick.“ Er habe es selbst erst nach dem Rennen so richtig realisiert, als er sich die Übertragung auf dem Handy anschaute: „Ich hätte das vorher nicht geglaubt.“
Dass er ausgerechnet an einem Tag glänzte, an dem andere Favoriten schwächelten, sei „ein bisschen verrückt“, sagte er. Auch wenn die Power-Werte laut eigener Aussage „nichts Besonderes“ gewesen seien, passte an diesem Tag einfach alles: „Man muss in seinen Körper reinhören – das hat heute gut funktioniert.“
Lipowitz sprach mit erfrischender Offenheit – auch über seine Erwartungen für die nächsten Etappen: „Ich bin froh, wenn wir den ersten Ruhetag erreichen. Die kurzen Anstiege mit Positionskämpfen liegen mir nicht so.“ Und doch: Mit Platz 9 in der Gesamtwertung und nur einer Sekunde Rückstand auf Roglic hat sich der Newcomer eine glänzende Ausgangsposition erarbeitet.
Holger Gerska bemerkte treffend: „Einige, die mit Top-Ten-Ambitionen gestartet sind – wie Buchmann oder Gall – sind schon raus. Lipowitz ist noch da.“

Vom Biathlon zur Tour – Der Quereinsteiger überzeugt

Florian Lipowitz’ Weg zum Profiradsport ist ungewöhnlich. Er stammt aus dem Biathlon, eine Parallele, die das Tourfunk-Team mit einem Schmunzeln aufnahm: „Er spricht wie Simon Schempp“, so Antwerpes. Und auch Holger Gerska erinnerte sich: „Bei der WM in Zürich war er noch sehr zurückhaltend – aber jetzt gibt er auf alles eine profunde Antwort. Und das als Tourneuling.“
Im Hintergrund, so Casalette, arbeite das Team schon länger an seiner Medienpräsenz. „Er ist kein geborener Redner – aber er wird herangeführt.“ Die Mischung aus sportlicher Leistung, reflektierter Selbstwahrnehmung und sympathischer Zurückhaltung macht Lipowitz zu einem der interessantesten deutschen Tour-Debütanten der letzten Jahre.
Fabian Wegmann fasste es so zusammen: „Ein fantastisches Zeitfahren. Wenn die langen Berge kommen, wird er ganz lange mitfahren. Der Abstand ist noch klein – und seine Tage kommen erst.“

Roglic bleibt Kapitän – noch

Auch wenn Lipowitz durch sein Zeitfahren glänzte, bleibt Primoz Roglic Kapitän bei Red Bull - BORA - hansgrohe. Wegmann erklärte: „Roglic war Giro-Sieger, neun Mal auf dem Grand Tour-Podium – das kann man nicht einfach übergehen.“ Die Teamstruktur sei klar: „Als Lipowitz Defekt hatte, war keiner bei ihm – das zeigt, dass Roglic die Nummer eins ist.“
Doch auch Roglic ist nicht ohne Fragezeichen. Nach dem Giro sei er „mental am Ende gewesen“, so Ostermann, zudem habe er mit einem bakteriellen Infekt zu kämpfen gehabt. Die große Frage: Kommt er in Form, wenn es ins Hochgebirge geht?

Zwischen Windkanten, Materialfragen und taktischen Optionen: Die vielen kleinen Geschichten des Tages

Neben den großen Namen und Schlagzeilen des Zeitfahrens wurden im Tourfunk auch zahlreiche kleinere, aber aufschlussreiche Facetten des Renntags beleuchtet – etwa die besondere Atmosphäre rund um das Zielgelände. Moritz Casalette schilderte eine ungewöhnlich stille Szene bei den Team-Bussen: „Normalerweise ist das ein großer Trubel, ein Chaos aus Zuschauern, Journalisten, Teamfahrzeugen. Heute war es ganz ruhig – fast schon gespenstisch.“ Diese Ruhe spiegelte vielleicht auch die Überraschung und Verunsicherung wider, die der Rückstand von Jonas Vingegaard bei vielen ausgelöst hatte.
Ein weiteres Thema: das Material. Fabian Wegmann erinnerte daran, wie wichtig die richtige Ausrüstung für ein Zeitfahren sei – und dass es durchaus technische Unterschiede gebe, die mitunter entscheidend seien. Tadej Pogacar etwa trug an diesem Tag nicht den gewohnten Anzug seines Ausstatters, sondern einen offiziellen Tour-Anzug – der am Vortag sogar von Schneider*innen im Hotel angepasst wurde. „Aber er war schnittig“, witzelte Wegmann. Die Details zeigen: Selbst auf höchstem Niveau entscheiden Millimeter und Nähte.
Auch das Thema Teamtaktik wurde diskutiert. Bei Red Bull - BORA - hansgrohe etwa sei die Rollenverteilung zwischen Roglič und Lipowitz bewusst offen gehalten worden. Wie Holger Gerska betonte, sei das strategisch klug: „Man muss jetzt auch da nichts festlegen oder sagen, wer hinter wem fährt am ersten Berg. Momentan ist das eine Luxusposition.“ Beide Fahrer könnten wechselweise angreifen – ein Vorteil, den viele Teams nicht haben.
Auch der Giro d’Italia Women 2025 in Italien fand im Tourfunk Beachtung: Antonia Niedermaier fuhr sich nach einer schweren Etappe auf Rang über die Ziellinie – vor etablierten Namen wie Anna van der Breggen. „Das läuft richtig gut“, lobte Holger Gerska und unterstrich damit einen weiteren deutschen Lichtblick an diesem ereignisreichen Tag.

Frankreich feiert Kevin Vauquelin

Einer, der sich ebenfalls ins Rampenlicht fuhr: der junge Franzose Kevin Vauquelin. Dritter in der Gesamtwertung nach fünf Etappen, und das in seinem Heimatgebiet – die Begeisterung in Frankreich ist groß. Holger Gerska brachte es auf den Punkt: „Früher war es Alaphilippe – jetzt ist Kevin der neue Darling.“
Auch Michael Ostermann lobte: „Er war bei der Tour de Suisse schon auf dem Podium – und jetzt hier wieder ganz vorne, obwohl sein Team Arkea um die Existenz kämpft. Das ist schon stark.“

Und wie geht’s weiter?

Die sechste Etappe wird erneut anspruchsvoll: über 200 Kilometer, mehr als 3.200 Höhenmeter – ein Terrain, das Pogacar liegen dürfte. Zwei Szenarien sieht Gerska: Entweder eine ungefährliche Ausreißergruppe kommt durch, oder Pogacar und van der Poel eröffnen erneut das Feuer. „Es wird spektakulär – keine Frage.“
Ostermann spekulierte, ob Pogacar Vingegaard noch weiter unter Druck setzen werde – auch mental: „Warum sollte er jetzt nicht noch mal nachlegen?“

Eine Tour im Umbruch

Die fünfte Etappe der Tour de France 2025 hat vieles durcheinandergewirbelt. Der eine (Evenepoel) brilliert, der andere (Pogacar) kontrolliert, und ein dritter (Vingegaard) gerät ins Wanken. Währenddessen fährt sich ein deutscher Newcomer ganz still in den Favoritenkreis – mit Leistung, Bescheidenheit und überraschender Reife.
Die Tour ist noch lang. Doch der Tag von Caen nach Caen könnte sich als einer jener Schlüsselmomente erweisen, die am Ende den Unterschied machen.
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