Die 12. Etappe der
Tour de France 2025 wird in Erinnerung bleiben. Nicht nur wegen Tadej Pogacars entfesselter Attacke hinauf nach Plateau de Beille, die ihm das Gelbe Trikot einbrachte. Sondern auch, weil ein junger Deutscher die Radsportwelt in Staunen versetzte:
Florian Lipowitz fuhr als Dritter über die Ziellinie und schob sich in der Gesamtwertung auf Rang vier. Der
"Sportschau Tourfunk"-Podcast mit Host Moritz Casalette, ARD-Kommentator Florian Naß, ARD-Experte Fabian Wegmann sowie den Reportern Holger Gerska und Michael Ostermann verarbeitete das Geschehen mit spannenden Interview-Einblicken.
Im Zentrum: Das Interview mit
Rolf Aldag von
Red Bull - BORA - hansgrohe, in dem er die Teamtaktik und den Aufstieg von Lipowitz einordnet. Und ein Gespräch mit
Grischa Niermann vom Team Visma - Lease a Bike, das den ernüchternden Tag für
Jonas Vingegaard beleuchtet.
Pogacar in einer anderen Liga
"An Pogacar hat man sich ja gewöhnt", sagt Florian Naß gleich zu Beginn. "Aber heute haben wir etwas Großartiges gesehen." Der Slowene zeigte auf den letzten Kilometern eine Solofahrt, die allen Konkurrenten den Atem raubte. "Das war sensationell, das ist einfach großartig."
Holger Gerska ergänzt: "Er war schneller als Jonas Vingegaard auf dem letzten Kilometer – und das mit einer ganz anderen Ausgangsposition."
Lipowitz beeindruckt
Die Runde zögerte nicht, das Geschehen historisch einzuordnen: "Das ist die beste deutsche Kletterleistung, die ich gesehen habe", so Gerska über Lipowitz. "Was Lipowitz heute gezeigt hat, bewerte ich höher als alles, was Emanuel Buchmann je gefahren ist."
Fabian Wegmann betont: "Wenn er vorher hätte attackieren dürfen, wäre er heute vielleicht sogar der zweitbeste Fahrer gewesen."
Schreibt schon jetzt eine der Geschichten der Tour de France 2025: Der 24-Jährige Florian Lipowitz
Die Lipowitz-Euphorie und ihre Grenzen
"Er hat das heute gemacht wie ein Großer", sagt Wegmann über den jungen Deutschen. "Immer schneller geworden, keine Schwäche gezeigt." Auch Florian Naß reiht sich ein in die Begeisterung: "Das ist super, das ist Weltklasse."
Doch der Blick richtet sich auch auf die Teamtaktik. Musste Lipowitz zu lange warten? War er zu sehr eingebunden in die Helferrolle für Primoz Roglic? Casalette fragt: "Musste er wirklich warten und sich immer wieder umsehen?"
Wegmann bringt das Problem auf den Punkt: "Red Bull - BORA - hansgrohe hat keine Helfer mehr. Vlasov kann nicht helfen. Wenn jetzt attackiert wird, wer fährt dann hinterher?"
"Das wäre ja, mit Verlaub gesagt, ziemlich dämlich"
An dieser Stelle kommt Rolf Aldag ins Spiel. In einem bemerkenswert offenen Interview mit Bernd Arnold schildert er die taktische Herangehensweise seines Teams. "Es ging nicht ums Warten", betont Aldag. "Es ging erstmal darum, gemeinsam Evenepoel fernzuhalten."
Dann, so Aldag, habe der sportliche Leiter Gasparotto das Go gegeben: "Wir wollen ihn in einem steilen Stück distanzieren." Lipowitz und Onley gingen, Vingegaard blieb zurück. Eine goldrichtige Entscheidung, auch wenn Aldag den Spekulationen, ob Lipowitz hätte früher losfahren sollen, klar widerspricht: "Dann hätte er sich vielleicht einen Hungerast gefahren."
Und dann fällt der Satz, der die Tour-Taktik seines Teams wie kein anderer beschreibt: "Wenn ich nicht ganz falsch liege, sind wir die einzigen, die noch zwei vorne haben. Dann wäre es ja, mit Verlaub gesagt, ziemlich dämlich, zu sagen: Wir legen uns auf einen absolut fest."
Aldag will das Spiel der Optionen offenhalten. Die Tour sei kein Computerspiel. "Da oben auf der Ziellinie wird abgerechnet", sagt er. "Rom wurde auch nicht an einem Tag gebaut."
Roglic: Der Kapitän ohne Zukunft?
Doch genau hier beginnt das Dilemma. Ist Roglic überhaupt noch Kapitän? Oder steht Lipowitz längst im Mittelpunkt? Aldag bleibt diplomatisch: "Wir haben gesagt, gib ihm die Zeit, gib ihm die Ruhe."
Die Podcast-Runde ist da weniger zögerlich. "Ich glaube, sie haben zu lange geglaubt, dass Roglic da noch mitfahren kann", kritisiert Michael Ostermann. "Man hat gesehen, dass es nicht mehr reicht."
Holger Gerska verteidigt die Entscheidung, Roglic nicht sofort zurückzupfeifen: "Für die Teamhygiene war es wichtig, ihm die Chance zu geben."
Und Fabian Wegmann ergänzt: "Er hat sich das verdient. Roglic war auf so vielen Grand-Tour-Podien, da kannst du nicht nach drei Kilometern sagen: Jetzt ist Schluss."
Grischa Niermanns ernüchternde Bilanz
Während Lipowitz brillierte und Pogacar flog, erlebte Jonas Vingegaard einen Tag zum Vergessen. Grischa Niermann, sportlicher Leiter von Visma - Lease a Bike, ließ im Gespräch mit Moritz Casalette keine Zweifel: "Nein, es war natürlich kein guter Tag für uns. Jonas hat am letzten Anstieg ganz schön gelitten."
Trotz aller taktischen Bemühungen, trotz früher Führung und Tempoarbeit: "Der beste Fahrer hat gewonnen. Und der hat jetzt einen ordentlichen Vorsprung."
Casalette hakt nach: War die aggressive Fahrweise des Teams der Fehler? Niermann bleibt ruhig: "Egal wie wir heute gefahren wären, das Ergebnis wäre dasselbe gewesen."
Pogacar der Unantastbare
Und was ist mit Pogacar? "Der ist wie Wolverine", sagt Wegmann. "Gestern noch mit 50 km/h gestürzt, heute dominiert er die Etappe." Der slowenische Superstar wirkte unbeeindruckt, unaufhaltsam, unwirklich.
"Wir haben uns getäuscht", so Casalette selbstkritisch. "Gestern dachten wir: Das ist jetzt die große Chance für Visma. Heute war alles anders."
Lipowitz' Weg: Vom Biathleten zur Tour-Hoffnung
Die Runde würdigt auch die Geschichte des Florian Lipowitz. "Früher Biathlet, dann Knieverletzungen, dann Radsport", erzählt Casalette. "Er musste alles lernen: Taktik, Positionierung, Fahrtechnik." Im Podcast gewährte Ralph Denk, Teamchef von Red Bull - BORA - hansgrohe, spannende Einblicke in die Entdeckung des jungen Talents und schilderte, wie aus einem Biathleten ein Profi-Radfahrer wurde.
„Das ist eine schöne Geschichte“, beginnt Denk und erinnert sich an den ersten Kontakt mit Lipowitz im Jahr 2020: „Das Telefon klingelt, meine Assistentin stellt durch: ‚Da ist einer dran, der will Radprofi werden und ist jetzt Biathlet.‘ Ich dachte mir: ‚Ja, stell mal durch, ich hör mir das an.‘ Das war ein inspirierendes Gespräch.“ Nur wenige Tage später lud Denk den Jungspunt zum Mittagessen ein. „Er kam im Januar in Radklamotten, und als ich ihn fragte, wo er herkomme, meinte er ‚Von der Schule‘ – ich wusste, dass seine Schule über 100 Kilometer entfernt war. Da sagte ich: ‚Respekt.‘“
"Das war der erste Indikator"
Das Treffen wurde für Denk schnell zu einem wichtigen Moment. „Wir haben uns gut ausgetauscht und einen Plan gemacht. Ich sagte ihm, dass er nicht sofort Profi werden könne, denn für die U19 war er schon zu alt. Aber ich würde mir etwas überlegen.“ Nach einem intensiven Gespräch von etwa zwei Stunden fragte Lipowitz: „Kann ich mich irgendwo umziehen? Ich will wieder zurück in meine Radklamotten und nach Hause fahren.“ Und dann trat er den mehr als 100 Kilometer langen Heimweg auf dem Rad an.
„Das war für mich ein erster Indikator“, erklärt Denk. „Wollen ist das eine, Talent das andere. Aber wenn der Wille da ist, dann ist schon viel Gutes vorhanden.“ Dank dieses starken Engagements ermöglichte Denk dem jungen Fahrer einen Platz beim Tirol KTM Cycling Team, wo Lipowitz erste kleinere Profirennen bestritt. „Dann kam er wieder zu uns zurück, und der Weg ging weiter“, so Denk.
Heute bezeichnet Denk die Karriere des 24-Jährigen als „Herzensprojekt“: „Es fühlt sich immer anders an, wenn Leute erfolgreich werden, die du von ganz klein an in diesem Sport begleitest, als wenn man viel Geld auf den Tisch legt und Peter Sagan kauft. Das sind auch tolle Momente, und ich will die Erinnerungen nicht missen, wenn Sagan für uns gewinnt. Aber wenn ein eigener Rennfahrer bei dir im Projekt Berufsfahrer wird – wie Emanuel Buchmann oder Pascal Ackermann – dann sind das noch einmal ganz andere, emotionale Momente.“
Naß ergänzt: "Das ist übertragbar auf jede Sportart. Eine tolle Geschichte." Wegmann: "Ich liebe diese Story."
Zwischen Held und Hoffnungsträger
Dass Florian Lipowitz nun als Hoffnungsträger des deutschen Radsports gilt, ist keine Übertreibung mehr. Doch mit dem Ruhm kommt auch der Erwartungsdruck. „Wir sollten ihn nicht jetzt schon als Toursieger feiern“, mahnt Rolf Aldag im Interview.
Das Zeitfahren wartet
Der Blick geht nach vorn. "Morgen kommt das Bergzeitfahren", sagt Gerska. "Drei Abschnitte: flach, ansteigend, steil. Wer sich da nicht einteilt, verliert."
Lipowitz? "Noch keine Schwäche gezeigt", so Wegmann. "Wenn er das morgen auch übersteht, dann..."
Die Tour ist offen, der Druck wächst
Pogacar hat die Konkurrenz mit einem Schlag distanziert. Aber die Tour ist lang, das Terrain brutal, die Taktik entscheidend. Florian Lipowitz ist längst mehr als ein Überraschungsgast. Und Rolf Aldags Worte hallen nach: "Ziemlich dämlich" wäre es, jetzt alles auf eine Karte zu setzen.