Mehr als ein Jahrzehnt nach dem Skandal um Lance Armstrong, der die Glaubwürdigkeit des Profiradsports zu zerstören drohte, steht der Sport erneut auf dem Prüfstand. Eine neue Dokumentation der ARD, "Geheimsache
Doping: Im Windschatten" lässt vermuten, dass sich zwar die Methoden weiterentwickelt haben, die Kultur des Betrugs aber noch nicht ganz verschwunden ist.
Man könnte argumentieren, dass der Sport nie wirklich aus der dunklen Wolke des Dopings herausgekommen ist und immer von Gerüchten über Betrügereien geplagt wurde. Die Frage ist, ob man ihnen glauben kann. Und wenn diese Gerüchte wahr sind, kann der Radsport einen weiteren Dopingskandal verkraften?
Der Film präsentiert die Aussagen mehrerer Whistleblower aus dem Sport, darunter ehemalige Profis, die ihre Sicherheit riskiert haben, um ihre Meinung zu sagen. "Viele Leute haben Angst zu reden", sagt ein Ex-Profi. "Ich kenne jemanden, der aussagen wollte, aber er erhielt Morddrohungen, als die Drahtzieher des Dopings erfuhren, dass er reden wollte.
Armstrongs Fall, der auf EPO, Bluttransfusionen und systematischem Betrug beruhte, erschütterte den Sport in seinen Grundfesten, bevor er von Leuten wie Tyler Hamilton verdrängt wurde. Durch die Aufdeckung des Ausmaßes des Betrugs wurde jedoch auch deutlich, wie fortschrittlich und koordiniert die Dopingoperationen geworden waren. Der Radsport führte den biologischen Pass ein und verstärkte die Kontrollen außerhalb des Wettkampfs, aber die neuen Enthüllungen deuten darauf hin, dass diese Maßnahmen immer noch nicht ausreichen.
Dem Dokumentarfilm zufolge wird EPO nach wie vor verwendet, allerdings nicht in denselben hohen Dosen wie in den 1990er und 2000er Jahren, sondern in Form von Mikrodosierungen, einer Methode, die dazu gedacht ist, die modernen Tests zu umgehen. Noch besorgniserregender ist die offenbar weit verbreitete Verwendung von Aicar, einer Droge, die sowohl schwer nachweisbar als auch im Ausdauersport von großem Nutzen ist.
"Leute, die im Profiradsport aktiv sind, sagen, dass Aicar das Mittel der Wahl im Peloton war und ist", so ein Informant.
Aicar steigert die Durchblutung und kann die Muskelfasern verändern, was bei langen, zermürbenden Rennen einen unnatürlichen Vorteil verschafft und es somit perfekt für den Radsport macht. Die zunehmende Verwendung von Aicar spiegelt das ständige Katz-und-Maus-Spiel zwischen Dopern und Anti-Doping-Behörden wider. Wie Oliver Catlin, ein amerikanischer Dopingexperte, es ausdrückt: "Wenn ich ein Sportler wäre, würde ich dann Aicar nehmen, obwohl ich weiß, dass es auf der Liste der verbotenen Substanzen steht? Oder würde ich ein verwandtes Produkt einnehmen, das nicht auf der Liste steht?"
Selbst Branchenkenner geben zu, dass die Büchse der Pandora noch nicht geschlossen wurde, sondern vielleicht sogar noch offen ist. "Sie hat eine Tür geöffnet, die nie geschlossen wurde", sagt Evans und bezieht sich dabei auf die Dopingkultur, die den Sport einst beherrschte.
Der Dokumentarfilm beleuchtet nicht nur die Drogen selbst, sondern stellt auch die physische Plausibilität dessen in Frage, was die Fans auf der Straße erleben. Pierre Sallet, der sich seit langem mit den Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit befasst, ist unverblümt. "Wir kennen die Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit. Wir wissen, was ein Mensch leisten kann und was nicht. Es gibt sicherlich Grauzonen, aber ab einem gewissen Punkt wird es schwarz und weiß, und dann ist es zu 100 % Doping." Er fügt hinzu: "Ich kann nicht erklären, was ich auf der Straße sehe. Ein normaler Mensch ist zwischen 1,60 Meter und 2,20 Meter groß. Aber die Leistungen, die wir sehen, sind manchmal so, als ob jemand 3 Meter groß wäre."
Nicht alle sind sich einig, dass die Leistungssteigerung auf Doping zurückzuführen ist. Einige argumentieren, dass der technologische Fortschritt - vom Fahrraddesign über die Ernährung bis hin zur Datenanalyse - einen Großteil der Veränderungen ausmacht. "Die großen Entwicklungen sind viel wichtiger als die Vorteile der illegalen Substanzen in der Vergangenheit", sagt Filippo Galli, Produktentwickler bei Colnago. "Wir sprechen von unzähligen Innovationen: Materialien, Aerodynamik, Gewicht, Fahrradkontrolle, Grip, Komfort."