„Der Mensch ist keine Maschine“ – Top-Teams warnen vor gefährlichem Jugendwahn im Radsport

Radsport
Donnerstag, 30 Oktober 2025 um 11:00
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Das Rennen um den nächsten Remco Evenepoel oder Tadej Pogačar beschleunigt sich – und mit ihm wächst die Sorge über den immensen Druck auf junge Fahrer. Hochrangige Vertreter aus der WorldTour warnen inzwischen vor einem System, das Talente zu früh verheizt.
Robbert de Groot, Head of Performance bei Team Visma | Lease a Bike, beschreibt die Entwicklung als ungesund. „Alle Junioren, mit denen ich spreche, haben einen Manager. Es gibt fast keinen Junior mit einem gewissen Niveau, der keinen hat“, sagte er im Podcast In de Waaier. Der Kampf um Nachwuchsfahrer sei mittlerweile so intensiv, dass sich fast jedes Talent schon als Teenager in Verhandlungen mit Top-Teams befinde.
Diese Entwicklung habe laut De Groot einen gefährlichen Nebeneffekt: „Jemand bekommt schnell das Etikett ‚Talent‘, und sofort wird etwas von ihm erwartet. Das erzeugt Druck – von außen und von innen. Ich glaube nicht, dass das immer gesund ist.“

Scharfer Wettbewerb – und schwindende Perspektiven für Niederländer

Die Jagd nach Wunderkindern hat den Nachwuchsmarkt dramatisch verändert. „Red Bull, Trek, wir, Decathlon… das sind große Konkurrenten, und der Kampf ist intensiv“, erklärt De Groot. Visma musste zuletzt zwei hoch gehandelte niederländische Junioren – Michiel Mouris und Gijs Schoonvelde – an Red Bull–BORA–hansgrohe abgeben. „Wir hätten sicherlich gerne einen von ihnen gehabt“, gibt er zu. „Wir sind sehr daran interessiert, niederländische Fahrer zu verpflichten, aber jeder trifft seine eigenen Entscheidungen.“
Die Realität: Teams blicken zunehmend über Landesgrenzen hinaus, um Talente zu finden. Was einst nationale Entwicklungsarbeit war, ist heute ein globales Wettrüsten – mit Scouts, Analysen und Leistungsdaten als Waffen.

„Man gewinnt mit dem Herzen, nicht mit einem Algorithmus“

Auch erfahrene Profis sehen diese Entwicklung kritisch. Der belgische Routinier Julien Vermote warnte in Het Nieuwsblad vor den Folgen des Jugendwahns: „Alle wollen den neuen Pogacar oder Remco finden. Aber es gibt keine fünfzig von ihnen, die so herumlaufen.“
Er bemängelt zudem die wachsende Abhängigkeit von Daten. „Alles wird in Watt und Herzfrequenzbereichen gemessen. Aber Rennen gewinnt man nicht nur mit Zahlen. Der Mensch ist keine Maschine – das scheinen viele zu vergessen. Das Rennen ist kein Labor. Man gewinnt mit dem Herzen, nicht mit einem Algorithmus.“
Seine Worte treffen den Kern der aktuellen Diskussion: Die technische und wissenschaftliche Perfektionierung des Sports droht die menschliche Komponente zu verdrängen.

Ein Wettrüsten der Talente – um welchen Preis?

Die WorldTour-Teams investieren früher, scouten aggressiver und binden Fahrer immer jünger. Entwicklungsprogramme gleichen zunehmend professionellen Teams, Juniorenrennen werden zu Vorstufen der WorldTour. Die Vorteile liegen auf der Hand – kürzere Wege, bessere Betreuung, klarere Strukturen. Doch der Preis ist hoch: steigender psychischer Druck, geringere Durchlässigkeit für erfahrene Profis und ein System, das Risiko über Reife stellt.
Für Robbert de Groot ist klar: Der Schutz der Fahrer muss künftig denselben Stellenwert haben wie ihre Entdeckung. Wie gut es den Teams gelingt, dieses Gleichgewicht zu wahren, wird entscheiden, wie menschlich die nächste Ära des Radsports wirklich sein wird.
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