ANALYSE | Remco Evenepoel gegen Florian Lipowitz: Der Machtkampf um die Kapitänsrolle bei Red Bull – BORA – hansgrohe

Radsport
Samstag, 09 August 2025 um 11:09
Evenepoel Roglic
Der lange erwartete Transfer von Remco Evenepoel zu Red Bull – BORA – hansgrohe ist endlich offiziell. Was über Jahre in den Fluren der Radsportwelt gemunkelt wurde, ist nun Realität: Der belgische Superstar verlässt Soudal – Quick-Step vorzeitig, um sich einem Team anzuschließen, das in einer anderen finanziellen Liga spielt. Damit geht eine der langwierigsten Transfersagas des modernen Radsports zu Ende – ein Wechsel, der bereits seit vier Jahren in der Luft lag.

Budget als entscheidender Faktor

Soudal – Quick-Step war nie ein schwaches Team. Doch wenn es um Ambitionen im Gesamtklassement geht, entscheidet oft das Budget. Mit geschätzten 30 Millionen Euro jährlich ist die Mannschaft zwar solide aufgestellt, doch im Vergleich zu den Schwergewichten wie UAE Team Emirates (ca. 50 Millionen Euro) oder Visma | Lease a Bike (über 40 Millionen) gerät man ins Hintertreffen. Nun reiht sich Red Bull – BORA – hansgrohe in diese Elite ein – und das mit Evenepoel als neuem Zugpferd.
Dabei geht es nicht primär um Evenepoels Gehalt. Vielmehr geht es darum, was Red Bull in seine Helfer investieren kann. 2025 startete Evenepoel bei der Tour de France mit einem Team, das nicht mit der Qualität von Pogacars oder Vingegaards Helfern mithalten konnte. Pogacar wurde von Almeida, Yates, Narváez und Wellens flankiert; Vingegaard von van Aert, Jorgenson, Simon Yates und Kuss. Evenepoel fehlte ein vergleichbares Unterstützerquartett – das soll sich bei Red Bull ändern.

Interner Konkurrenzkampf statt Freifahrtschein

Doch der Wechsel garantiert keine alleinige Kapitänsrolle. Mit Florian Lipowitz hat sich bei Red Bull – BORA – hansgrohe ein neuer Stern etabliert. Als Evenepoel bei der Tour ausstieg, übernahm Lipowitz das Weiße Trikot und schloss die Rundfahrt als Gesamtdritter ab – ein Durchbruch, der die Hackordnung infrage stellt.
Ex-Profi und Analyst Jan Bakelants brachte es auf den Punkt: „Vom Zeitpunkt her ist das nicht der beste Moment für einen Wechsel. Der Durchbruch von Florian Lipowitz macht alles noch komplizierter.“ Zwar sei Evenepoel in Topform der bessere Fahrer, doch die Frage sei: „Sehen das auch alle so?“

Primoz Roglic: Veteran mit Ambitionen

Auch Primoz Roglic spielt weiter eine gewichtige Rolle. Trotz seiner 36 Jahre zeigte er 2025 bei der Tour de France, dass er noch längst nicht zum alten Eisen gehört. Vier Vuelta-Siege, ein Giro-Triumph und olympisches Gold zeugen von seiner Klasse. Der slowenische Experte Bogdan Fink sieht keinen Rückzug in eine Mentorenrolle: „Er fährt noch Rennen und hat noch nicht das letzte Wort gesprochen.“
Zwischen Evenepoel und Roglic bahnt sich ein generationenübergreifendes Duell an. Laut ProCyclingStats liegt Evenepoel im direkten Vergleich mit 63:62 Siegen knapp vorn – ein nahezu ausgeglichenes Kopf-an-Kopf-Rennen. In Etappenrennen jedoch hat Roglic bislang die Oberhand. Bei sechs gemeinsamen Starts gewann er dreimal (Romandie 2019, Katalonien 2023, Dauphiné 2024), Evenepoel ging nie als Sieger hervor, wenn Roglic im Ziel war.

Florian Lipowitz: Das größte Fragezeichen

Noch spannender wird das Duell mit Florian Lipowitz. Der junge Deutsche ist ein Jahr jünger als Evenepoel, aber schon auf Augenhöhe. Beide standen bei den letzten beiden Tour-Ausgaben auf dem Podium der Nachwuchswertung. Bei den gemeinsamen Etappen lag Evenepoel 23 Mal vorn, Lipowitz 12 Mal – ein klarer Vorteil für den Belgier. Doch bei den beiden Rundfahrten, die beide 2025 bestritten, ist die Bilanz ausgeglichen: Bei der Dauphiné war Lipowitz Dritter, Evenepoel Vierter. In San Juan 2023 lag Remco deutlich vorn.
Lipowitz’ größter Trumpf: seine Konstanz. Während Evenepoel 2025 erneut mit Formschwankungen zu kämpfen hatte, lieferte der Deutsche eine makellose Saison ab. Sollte sich das fortsetzen, dürfte es für Evenepoel schwer werden, seine Stellung zu behaupten – selbst mit seinem beeindruckenden Palmarès von 64 Profisiegen.

Jai Hindley bleibt gefährlich

Neben Lipowitz und Roglic darf ein weiterer nicht unterschätzt werden: Jai Hindley. Der Giro-Sieger von 2022 und Tour-Etappensieger von 2023 ist bei Red Bull – BORA – hansgrohe etwas in den Hintergrund geraten, besitzt aber nach wie vor Führungspotenzial. Im direkten Duell liegt Evenepoel mit 74:33 Siegen klar vorne, auch bei Rundfahrten führt er mit 5:2. Dennoch bleibt Hindley mit seinen neun Siegen ein gefährlicher Faktor – insbesondere in dreiwöchigen Rennen.

Die große Herausforderung: Teamdynamik

Der sportliche Erfolg wird nicht allein von Evenepoels Beinen abhängen, sondern auch davon, wie gut Teammanager Sven Vanthourenhout die interne Balance meistert. „Er wird eine Menge Arbeit haben, um alle auf die gleiche Seite zu bringen“, sagte Bakelants. Denn das Potenzial, aber auch das Konfliktpotenzial innerhalb der Mannschaft ist enorm.
Im UCI-Ranking liegt Red Bull – BORA – hansgrohe aktuell mit 9985,5 Punkten auf Platz fünf – vor Soudal – Quick-Step (9386,2), aber weit hinter Branchenprimus UAE Team Emirates – XRG mit 26.200,8 Punkten. Der Sprung an die Weltspitze ist möglich, aber kein Selbstläufer.

Fazit: Ein Wechsel mit Risiko und Potenzial

Remco Evenepoel bringt alles mit, was ein Grand-Tour-Sieger braucht: Talent, Erfolge und Charisma. Doch sein Wechsel zu Red Bull – BORA – hansgrohe kommt in einer Phase, in der die interne Konkurrenz größer ist denn je. Lipowitz im Aufwind, Roglic noch nicht am Ende, Hindley in Lauerstellung – der Kampf um die Kapitänsrolle wird intensiv.
Doch gerade darin liegt auch die Chance: Ein Umfeld, das von Wettbewerb geprägt ist, kann auch Spitzenleistungen fördern. Wenn Red Bull – BORA – hansgrohe die richtige Balance findet, könnte Evenepoel 2026 endlich das erreichen, worauf er seit Jahren hinarbeitet: ein ernsthafter Anlauf auf das Gelbe Trikot.
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