ANALYSE | Bürgerkrieg oder Meisterklasse? Was UAE von Sky und Visma lernen müssen, um ein Ayuso-Del Toro-Desaster zu vermeiden

Radsport
Montag, 26 Mai 2025 um 19:00
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Zu Beginn der letzten Woche des Giro d’Italia 2025 befindet sich das UAE Team Emirates in der stärksten – aber womöglich auch prekärsten – Position aller Mannschaften. Nach 15 Etappen tragen sie mit Isaac Del Toro das Rosa Trikot, während ihr nomineller Kapitän Juan Ayuso den dritten Gesamtrang belegt. Ihre geballte Kraft hat das Rennen zeitweise dominiert, doch ihre Unentschlossenheit droht alles zu verspielen.
Auf dem Papier ist es ein ideales Szenario. Del Toro, erst 21 Jahre alt und bei seiner zweiten Grand Tour unterwegs, hat sich zum Mann des Rennens entwickelt und führt mit 1:20 Minuten Vorsprung auf Simon Yates. Ayuso liegt mit 1:26 Rückstand in Reichweite. Primoz Roglic, einst größte Bedrohung, ist eingebrochen und hat fast vier Minuten Rückstand. UAE Team Emirates hat alle Trümpfe in der Hand – doch es gelingt ihnen nicht, sie entschlossen auszuspielen.
Ein Paradebeispiel dafür war die 15. Etappe am Monte Grappa.

Der Monte Grappa als Wendepunkt

Diese Etappe hätte die Dominanz der Emirate festigen können. Als Egan Bernal attackierte, folgte Del Toro gemeinsam mit Richard Carapaz, Derek Gee und Thymen Arensman. Ayuso wurde abgehängt, geriet in Schwierigkeiten – und das Team traf eine ungewöhnliche Entscheidung: Statt Del Toro weiterfahren zu lassen, zog man Ayusos Gruppe wieder heran. In dem Versuch, beiden Fahrern zu dienen, riskierten sie, keinem gerecht zu werden.
Es ist ein klassisches Grand-Tour-Dilemma: Hat ein Team zwei potenzielle Sieger, stellt sich die Führungsfrage. Die Radsportgeschichte kennt dafür viele Beispiele – mit glorreichen und katastrophalen Ausgängen. UAE täte gut daran, zwei moderne Fälle genau zu analysieren: den internen Machtkampf bei Jumbo-Visma bei der Vuelta 2023 und die klare Führungsentscheidung von Team Sky bei der Tour de France 2012.

Jumbo-Visma 2023: Fast gescheitert, aber vereint

Bei der Vuelta 2023 trat Jumbo-Visma mit drei Topstars an: Giro-Sieger Roglic, Tour-Sieger Vingegaard und Edelhelfer Sepp Kuss. Unerwartet übernahm Kuss das Rote Trikot. Als Vingegaard und Roglic auf der 17. Etappe ihren Teamkollegen am Berg attackierten, war die Empörung groß. Das Team sah sich gezwungen umzudenken. In den finalen Etappen stellten sich die Stars geschlossen hinter Kuss – es folgte ein historisches Triple: drei Grand Tours, drei Fahrer, ein Team.
Doch es war ein Drahtseilakt. Hätte Kuss an diesem Tag eingebüßt, hätte man von interner Meuterei gesprochen. Was Visma rettete, war die späte Geschlossenheit. Was sie beinahe zerstörte: Ego, Unsicherheit, fehlende Führung.
Del Toro ist in einer ähnlichen Lage wie Kuss: loyal, jung, bislang ohne Schwächen. Ayuso ist nicht ganz auf dem Level eines Vingegaard, aber klar als Kapitän vorgesehen. Anders als Kuss durfte Del Toro sein eigenes Rennen fahren – und das tat er stark und konstant.

Der verpasste Moment – und das Zögern

Trotzdem hielt das Team am Monte Grappa inne. Statt Del Toro seinen Vorsprung ausbauen zu lassen, wurde gezögert – aus Rücksicht auf Ayuso. Ein klarer Moment, in dem die Chance auf die Vorentscheidung verschenkt wurde.
Ein Vergleich mit dem Team Sky 2012 drängt sich auf: Bradley Wiggins war der Anführer, Chris Froome der Helfer. Froome zeigte starke Leistungen, musste sich aber unterordnen. Auf der Etappe nach La Toussuire wurde er von der Teamleitung zurückgepfiffen. Sky blieb seiner Linie treu – Wiggins gewann, das Team erreichte sein Ziel.

Führungslos in der Schlüsselsituation

Bei UAE fehlt diese klare Linie. Es gab keine öffentliche Festlegung auf einen Kapitän. Im Gegensatz zu Visma fehlt ihnen die Erfahrung in solchen Situationen. Und die Konstellation ist zusätzlich aufgeladen: Ayuso gilt als Erbe von Pogacar – nun stört der jüngere Del Toro die Hierarchie.
Hinzu kommt: Ayuso ist angeschlagen. Nach Stürzen auf der 1. und der 9. Etappe wirkt er in den Bergen nicht mehr souverän. Am Monte Grappa war es Del Toro, der die Attacken parierte – nicht Ayuso.

Es droht der doppelte Verlust

Visma hatte bei der Vuelta einen komfortablen Vorsprung. UAE hingegen befindet sich inmitten eines offenen Schlagabtauschs. Wenn sie sich weiterhin nicht entscheiden, könnten sie beide Optionen verlieren. Ein starker Angriff von Yates, Carapaz oder Bernal – und das Rosa Trikot ist weg.
Die letzten Etappen sind erbarmungslos. Von einem Gipfel zum nächsten, ohne Pausen. Es braucht jetzt klare Führung – auf der Straße und im Mannschaftswagen. Joxean Matxin oder seine Kollegen müssen entscheiden: Setzt man auf den in Form befindlichen Del Toro – oder vertraut man weiter Ayuso? Bisher deutet alles auf ein Zögern hin.
Aber der Giro belohnt keine Kompromisse.

Ein Tanz auf dem Drahtseil

Visma entging bei der Vuelta knapp einem Debakel. Sky meisterte 2012 eine Gratwanderung mit Disziplin. UAE steht nun in Italien am gleichen Punkt. Ein Fehltritt – und nicht nur das Rennen, sondern auch das Vertrauensverhältnis zwischen Del Toro und Ayuso könnte zerstört sein.
Wäre Del Toro ein erfahrener Star, wäre die Entscheidung längst gefallen. Doch das Team fürchtet, dass er in der dritten Woche einbricht – ohne Garantie, dass es Ayuso besser ergeht.
Natürlich besteht die Möglichkeit eines Doppelsiegs. Aber sie schwindet mit jeder Etappe. Die Rivalen kommen näher, die Angriffe werden schärfer. Und UAE muss sich endlich entscheiden: Für wen fahren sie wirklich?
Wenn die Antwort am Ende dieser Woche nicht gefunden ist, könnte sie bedeutungslos sein – weil das Rosa Trikot dann längst verloren ist.
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