Von der zweitschnellsten Etappe der
Tour de France-Geschichte bis hin zu tiefgreifenden taktischen Verschiebungen – der "
Tourfunk"-Podcast der Sportschau beleuchtet eine turbulente neunte Etappe der Tour de France 2025.
Ein Tag, mit dem niemand rechnete
"Man hat mit einem Sprint gerechnet, aber mit all dem, was vorher passiert ist, konnte keiner rechnen – damit hat auch keiner gerechnet", fasst Host Moritz Casalette in der neuesten Folge des Podcasts Sportschau Tourfunk die 9. Etappe der Tour de France zusammen. Gemeinsam mit den Reportern Holger Gerska und Michael Ostermann wurde eine Etappe analysiert, die sowohl sportlich als auch organisatorisch an die Belastungsgrenze ging.
Der große Bluff: Van der Poel und Rickaert entkommen (fast)
Die Etappe schien nach einem bekannten Drehbuch zu verlaufen: Ausreißversuche, kontrolliertes Feld, Massensprint. Doch
Mathieu van der Poel und sein Teamkollege
Jonas Rickaert hatten andere Pläne. "Zwischendurch hatten die beiden mehr als fünf Minuten Vorsprung", so Casalette. Doch das Peloton reagierte zögerlich – zu zögerlich, wie Michael Ostermann einordnet: "Ich war auch überrascht, dass sie am Anfang so locker fünfeinhalb Minuten gegeben haben. Vielleicht dachten viele, die wollen nur bis zum Zwischensprint."
Einer der Stars der Tour de France 2025: Mathieu van der Poel
Dass van der Poel es ernst meinte, zeigte sich schnell. Rickaert stieg früh aus der Führungsarbeit aus, van der Poel kämpfte allein. Doch der Wind und eine plötzlich entstandene Windkante machten dem Duo einen Strich durch die Rechnung. Gerska liefert eine beeindruckende Zahl: "Es war die zweitschnellste Etappe aller Zeiten, 50,013 km/h im Schnitt." Das bedeutete: "Wenn Van der Poel 50 fuhr, musste das Feld 51 fahren, um ihn einzuholen."
700 Meter vor dem Ziel war der Traum vorbei.
Tim Merlier triumphiert im Chaos
Tim Merlier gewann den chaotischen Sprint vor Jonathan Milan. "Merlier konnte mehr Kräfte schonen, weil Milan viel im Wind war", erklärt Ostermann. Auch Pascal Ackermann und
Phil Bauhaus konnten nicht entscheidend eingreifen. Ackermann wirkte orientierungslos: "Er ist zu früh angetreten, hatte seine Höchstgeschwindigkeit deutlich vor dem Ziel erreicht", beschreibt Ostermann dessen Probleme. Ackermann wurde Zwölfter – sichtlich frustriert.
Phil Bauhaus über den Überlebenskampf in Frankreich
Phil Bauhaus zeigte sich nach der Etappe offen im Gespräch mit der Sportschau:
„Ich bin ja jedes Jahr in Topform hier, aber gut, so geht es wahrscheinlich auch allen anderen 180 Fahrern. Am Ende reicht es nur, um am Anschlag zu sprinten – und dann an den Bergetappen Anschlag im Gruppetto zu überleben.“
Eine ehrliche Momentaufnahme eines Fahrers, der seinen Weg in der Tour weitgehend ohne Sprintzug bestreiten muss.
Stress auf allen Ebenen: Organisation am Limit
Nicht nur sportlich, auch logistisch brachte die Etappe alle Beteiligten an ihre Grenzen. "Die Werbekarawane ist erst eine Viertelstunde vor dem Ziel durchgekommen", berichtet Casalette. Ostermann ergänzt: "Der Bus von Israel-Premier Tech war nicht zu sehen, INEOS schaffte es nicht rechtzeitig. Es herrschte riesige Hektik."
Zwischen Werbewagen, Pressefahrzeugen und Teamautos entstand ein gefährlicher Engpass – und das bei einem Sprint mit 70–80 km/h. "Wenn da noch Fahrzeuge im Weg stehen, kann das katastrophal enden", mahnt Ostermann.
Stürze, Schmerzen, Sorgen: Das Verletzungsbulletin
Neben der Rennhatz gab es zahlreiche Stürze: Georg Zimmermann kam schwer zu Fall, Louis Barré und Jonas Rutsch sind ebenfalls angeschlagen. "Bei Zimmermann sind die Hautabschürfungen großflächig – das wird eine schlechte Nacht", prognostizierte Gerska - und sollte Recht behalten.
Und dann wäre da noch
Joao Almeida. Der wichtige Berghelfer von
Tadej Pogacar musste nach einem schweren Sturz aufgeben – mit weitreichenden Konsequenzen.
Pogacar über Almeida: „Wir müssen uns neu aufstellen“
Im Interview spricht Pogacar ungewohnt offen über den Verlust seines portugiesischen Teamkollegen: „Es war ein Luxus, ihn auch im Kampf um die Gesamtwertung dabei zu haben … Er wäre in den Bergen ganz sicher eine große Hilfe gewesen – mental und körperlich. Jetzt müssen wir einiges neu bewerten … aber wir werden versuchen, diese Tour de France auch für Joao zu gewinnen.“
Der Verlust wiegt schwer – nicht nur taktisch, auch emotional.
Gerska ordnet den Ausfall von Almeida ein: "Er war der wichtigste Berghelfer. Schauen wir auf 2024: Almeida war Gesamtvierter. Er hat dieses Jahr drei Rundfahrten gewonnen, darunter die Tour de Suisse. Er war in Topform."
Zwar bleiben mit Adam Yates, Marc Soler und Nils Politt starke Fahrer, doch "nichtsdestotrotz fehlt halt einer". Die Folge: Pogacar muss früher selbst agieren – ein Risiko, das seine Gegner nutzen könnten.
Visma setzt zum Gegenschlag an
Dass Visma dieses Loch bei UAE nutzen will, liegt auf der Hand. Casalette: "Die arbeiten wie bekloppt und versuchen, Stress reinzubringen." Ostermann sieht das taktisch klar: "Das Ziel wird sein, Pogacar zu isolieren."
Mit Fahrern wie Matteo Jorgenson und potenziellen Attacken von Simon Yates könnte ein Szenario wie am Col du Galibier 2022 entstehen – Pogacar isoliert, der Konkurrenz ausgeliefert.
"Bei Visma werden sie sich sagen: Das ist keine schlechte Nachricht für uns", so Ostermann. Das Rennen um Gelb ist offen wie selten.
John Degenkolb über den verschobenen Ruhetag
Eine zusätzliche Belastung ist die Ruhetags-Verschiebung – auch das ein Thema im Tourfunk. Der deutsche Profi
John Degenkolb, verletzungsbedingt nicht bei der Tour, bringt es auf den Punkt:
„Ich kann mich an Austragungen erinnern, wo ich auf Knien den ersten Ruhetag herbeigefleht habe. Gerade bei Etappen, wo es den ganzen Tag wellig ist, werden sie auf Knien in den Ruhetag gehen, da kannst du Gift drauf nehmen.“
Bergfest am Nationalfeiertag: Die schwerste Etappe steht bevor
Der heutige 14. Juli verspricht ein weiteres Spektakel – und möglicherweise einen K.o.-Schlag im Kampf um Gelb. "4500 Höhenmeter auf unter 170 Kilometern – das ist alpentauglich", beschreibt Gerska die Strecke. "Es gibt sieben Anstiege der 2. Kategorie – das hat es noch nie an einem Tourtag gegeben. Am Ende ist sogar eine kleine Bergankunft“, erklärt Gerska. „Nur drei Kilometer, aber extrem steil.“ Gerade an einem Feiertag könnten französische Fahrer besonders motiviert für Ausreißversuche und Etappenerfolg sein.
Casalette sieht die Möglichkeit für zwei Rennen: „Eines um den Tagessieg, eines um die Gesamtwertung.“ Ob es eine Ausreißergruppe schafft, ist fraglich. Ostermann rechnet damit, dass die großen Teams "von Beginn an das Tempo hochhalten werden".
Die neunte Etappe der Tour de France 2025 war ein Ausnahmezustand auf zwei Rädern. Höchstgeschwindigkeit, Hektik, Helferverlust – und ein Peloton, das sich keine Ruhe gönnt.