Wenn
Jan Ullrich und
Rick Zabel in ihrem Podcast
„Ulle & Rick“ über das aktuelle Radsportgeschehen sprechen, dann treffen zwei Generationen aufeinander – der Tour-de-France-Sieger von 1997 und der langjährige Sprinter aus dem WorldTour-Peloton. In der neuesten Folge stand eine Personalie im Zentrum, die den Radsport in diesen Tagen aufwühlt:
Juan Ayuso, das 22-jährige Ausnahmetalent aus Spanien, dessen Verhältnis zu seinem bisherigen UAE Team Emirates - XRG zerrütteter kaum sein könnte.
„Juan Ayuso fährt vor allen Dingen für ein Team, und das ist das Team Ayuso“, fasste Rick Zabel die Wahrnehmung vieler Beobachter prägnant zusammen. Eine Formulierung, die sich im Fahrerlager verselbständigt hat – und die Ullrich und Zabel nutzen, um das Spannungsfeld zwischen individuellem Ehrgeiz und Teamloyalität im Profiradsport auszuleuchten.
Die Eskalation während der Vuelta
Schon während der ersten Etappen der
Vuelta a Espana war aufgefallen, dass Ayuso nicht die Rolle eines klassischen Helfers einnahm. Auf der schweren Andorra-Etappe, so erinnerte Ullrich, sei er „als einziger der großen Favoriten direkt rausgefallen“. Einen Tag später reagierte er mit einem Etappensieg – doch anstatt seine Teamkollegen im Kampf um die Gesamtwertung zu unterstützen, agierte er vornehmlich für sich selbst.
Sorgt vor allem abseits der Straße für Schlagzeilen: Juan Ayuso
Zabel brachte es im Podcast auf den Punkt: „Bis jetzt auf den Etappen, wo er Almeida hätte helfen können, hat er einfach Kräfte gespart, um dann auf Etappensiege zu gehen. […] Wenn es nicht für Ayuso geht, dann geht’s halt für niemand anderen.“
Die Situation eskalierte, als UAE am Ruhetag eine Pressemitteilung veröffentlichte: Man werde in Zukunft getrennte Wege gehen. Ayuso reagierte empört. Er habe mit dem Team vereinbart, dass eine Erklärung erst nach der Vuelta veröffentlicht werde, um „das Sportliche und meine Teamkollegen nicht zu beeinträchtigen“. Stattdessen habe die Mitteilung nur den Zweck gehabt, „mein Image zu schaden“. Wörtlich sprach der Spanier sogar von Zuständen „wie einer Diktatur“.
Ullrichs Analyse: Talent ohne Teamgeist
Jan Ullrich kennt die Mechanismen des Radsports – und er verortete Ayusos Verhalten in einem größeren Muster. „Es ist ja schon intern länger bekannt, dass Ayuso nicht so ein Teamplayer ist“, sagte der 51-Jährige. „Ein riesen Talent, das man fördern muss. Aber auch bei der Tour de France letztes Jahr hat man gut gesehen, dass er immer so ein bisschen sein Ding macht.“
Besonders kritisierte Ullrich den frühen Ausstieg Ayusos beim Giro 2025 nach Stürzen und einem Bienenstich: „Viele Radprofis haben sich mit solchen Problemen durchgekämpft. Er hätte als Helfer für die Schlussphase noch einen großen Unterschied machen können.“
Die Quintessenz: Ayuso sei ein Siegfahrer von enormem Potenzial, müsse aber erst lernen, dass auch das Zurückgeben ans Team Teil wahrer Größe sei. „Das machen alle großen Champions. Sogar Tadej Pogacar“, betonte Ullrich. „Wenn Ayuso richtig arbeitet und Almeida dadurch die Vuelta gewinnt, ist das ja auch sein Sieg. Das muss er noch lernen.“
Zabels Kontrapunkt: Jugend und Lernkurve
Rick Zabel zeigte mehr Verständnis für das Alter des Spaniers. „Der ist erst 22, das muss man dazu sagen. Da ist man auch so veranlagt. Das kann ich bei mir selber auch sagen: In dem Alter habe ich mir auch gedacht, ich will für mich selber sprinten, ich will keinen Sprint anfahren. Das kam erst später.“
Dennoch machte auch Zabel klar: Wer im Profipeloton bestehen will, braucht mehr als nur Talent. „Wenn Ayuso Interviews gibt, in denen er bockig wirkt, steht er sich selbst im Weg. Er könnte stattdessen sagen: ,Ich habe Fehler gemacht, ich respektiere Almeida und helfe ihm.‘ Dann wäre der Drops noch nicht gelutscht.“
Der Vergleich: Almeida als Antipode
Deutlich wurde der Unterschied, als beide Podcaster Ayusos Teamkollegen Joao Almeida ins Spiel brachten. „Der hat seine Freiheit bekommen, hat Rundfahrten im Frühjahr gewonnen, aber ordnet sich bei der Tour sofort Pogacar unter. Völlig aufgeopfert, sogar mit gebrochener Rippe weitergefahren – das ist der Unterschied“, sagte Ullrich.
Zabel ergänzte: „Almeida ist das perfekte Gegenbeispiel. Der bekommt auch seine Chancen, fährt bei der Vuelta jetzt stark in der Gesamtwertung – und wenn Pogacar im Team ist, ordnet er sich unter. Genau an diesem Verhalten könnte sich Ayuso eine Scheibe abschneiden.“
Image und Marktwert: Ein Risiko für die Zukunft
Für beide Ex-Profis ist klar: Ayusos Verhalten hat Folgen, die über den aktuellen Rennausgang hinausgehen. „Dein Ruf wechselt ja mit“, warnte Ullrich. „Wenn du ein guter Teamplayer bist, bist du in einem neuen Team willkommener. Wenn du aber so eine kleine Diva machst, dann nicht.“
Gerüchte um einen Wechsel zu LIDL-Trek sind längst im Umlauf. Doch gerade dieses Team betont stets, wie wichtig das interne Klima sei. Ullrich: „Bei LIDL-Trek heißt es ,einer für alle, alle für einen‘. Mit einem Ruf als schwieriger Teamplayer kommst du da schwer rein.“
Ein offenes Kapitel bei der Vuelta
Die Diskussion über Ayuso ist ein Spiegel für ein grundlegendes Spannungsfeld im Radsport: das Verhältnis von individuellem Ehrgeiz und kollektiver Verantwortung. Ob der Spanier in den verbleibenden Bergetappen der Vuelta die Kurve bekommt, bleibt offen.
„Er hat ja genug Chancen, das zu zeigen“, blickte Zabel voraus. „Wenn er nicht bockig Interviews gibt, sondern sagt: ,Ich helfe Almeida‘, dann kann er sein Image drehen.“
Auch Ullrich will den 22-Jährigen nicht abschreiben: „Er ist ein riesen Talent, er muss dazulernen. Aber wir werden ihn noch viele Jahre im Profiradsport sehen.“
Spannung bei der Vuelta: Vom Mannschaftszeitfahren bis zu den Sprintetappen
Dass die Ayuso-Debatte die Schlagzeilen dominiert, liegt nicht nur am Verhalten des Spaniers selbst, sondern auch daran, dass die sportliche Situation bei der Vuelta so offen ist wie selten zuvor. „Das ganze Feld ist brutal zusammengerutscht“, wunderte sich Jan Ullrich beim Blick auf das Mannschaftszeitfahren. Über 24 Kilometer trennten den Sieger UAE Emirates und die zehnplatzierten Teams kaum mehr als eine halbe Minute. „So enge Abstände gab es zu unserer Zeit nicht“, betonte er.
Rick Zabel hob hervor, dass gerade diese Ausgeglichenheit den Reiz des Rennens ausmache. „Weil man es ein paar Jahre nicht im Fernsehen sehen konnte, war es umso schöner, wieder ein Mannschaftszeitfahren zu haben“, sagte er. Für die Fans sei das ein besonderes Highlight gewesen – und zugleich ein Hinweis darauf, wie hoch die Leistungsdichte im heutigen Profiradsport sei.
Doch nicht nur die Zeitfahrdisziplin sorgte für Gesprächsstoff. In Andorra feierte Jay Vine einen emotionalen Etappensieg vor seiner Familie. Der Australier war ursprünglich gar nicht für die Vuelta vorgesehen, wurde kurzfristig nominiert – und nutzte die Gelegenheit eindrucksvoll. „Das war ein sehr, sehr starker Sieg“, würdigte Zabel. Ullrich ergänzte: „Mich hat gewundert, dass man dieser starken Spitzengruppe so viel Vorsprung gelassen hat. Das sieht man heute kaum noch.“
Für zusätzliche Schlaglichter sorgten die wenigen Sprintetappen. Jasper Philipsen meldete sich nach seinem schweren Tour-de-France-Sturz zurück und gewann in Saragossa – wenn auch nach der Disqualifikation von Elia Viviani. „Respekt an Philipsen, dass er sich wieder traut, durch so eine Lücke zu fahren“, meinte Zabel. Ullrich sah im Belgier gar „den schnellsten Mann im Feld“.
Nachwuchsarbeit und Tradition als Kontrast
Auffällig war, wie stark Ullrich und Zabel in der Folge den Bogen von der aktuellen Vuelta zu ihren persönlichen Nachwuchserfahrungen schlugen. Ullrich erzählte von seinem Sohn Benno, der bei den Deutschen Meisterschaften im Mannschaftszeitfahren in Genthin startete. Mit hörbarem Stolz schilderte er, wie die U15-Fahrer „permanent 118 bis 120 Umdrehungen treten mussten“ – ein Wert, den er selbst aus aktiven Zeiten kannte. „Genthin ist schon eine riesen Tradition, da bin ich selbst schon gefahren“, erinnerte er sich.
Auch Rick Zabel griff diesen Faden auf. Er selbst habe in Genthin als Junior Siege gefeiert, erzählte er – und bezeichnete das Rennen als „große Traditionsveranstaltung“. Für ihn sei es zugleich ein Symbol dafür, dass Radsportkarrieren fast immer im familiären und regionalen Kontext beginnen. „Man denkt an die eigene Zeit zurück, wenn man an der Rundstrecke steht. Und natürlich träumt man davon, das mit den eigenen Kindern noch mal zu erleben“, sagte er über die Nachwuchsambitionen seines Sohnes Oskar.
Gerade dieser Kontrast – hier das Ego eines 22-Jährigen, dort das Idealbild von familiärer Unterstützung und Traditionspflege – verlieh der Episode eine besondere Tiefe. Der Streit um Ayuso wurde dadurch nicht nur als sportpolitisches Thema sichtbar, sondern auch als Frage von Erziehung, Verantwortung und Loyalität.
Vom Nachwuchs bis zu den Legenden: Die große Klammer
Gleichzeitig sprachen beide über Karrieren im Herbst: Chris Froome, der nach einem erneuten schweren Sturz wohl kein würdiges Abschiedsrennen mehr erleben wird, und Geraint Thomas, der in Großbritannien sein letztes Profirennen bestreitet.
Mit Walter Godefroot kam zudem ein Name zur Sprache, der die goldenen Jahre des Team Telekom prägte – und dessen Tod bei beiden Gesprächspartnern spürbare Wehmut auslöste.
So verband die Episode vieles: persönliche Einblicke, aktuelle Kontroversen und historische Reflexionen. Doch der rote Faden blieb klar: Die Frage, was im Radsport schwerer wiegt – das Ich oder das Wir.
Fazit
Juan Ayuso mag derzeit eines der größten Talente des internationalen Pelotons sein. Doch seine Zukunft wird nicht allein an Wattzahlen oder VO₂max entschieden, sondern an der Fähigkeit, sich in ein Kollektiv einzufügen und das Vertrauen einer Mannschaft zu rechtfertigen. Genau daran entzündet sich die Diskussion, die Ullrich und Zabel im Podcast „Ulle & Rick“ so scharf und zugleich so grundlegend geführt haben – eine Diskussion, die weit über die Vuelta hinausweist und das Grundprinzip des Radsports berührt: Nur wer das „Wir“ versteht, kann auf Dauer auch als „Ich“ bestehen.