"Ich brauchte keine Emotionen, sie wären mir nur in die Quere gekommen" - Philipa York über Isolation, Identität und das Leben nach dem Peloton

Radsport
durch Nic Gayer
Donnerstag, 19 Juni 2025 um 13:05
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Philipa York ist eine der bekanntesten Figuren des britischen Radsports – nicht nur wegen ihrer Erfolge in den 1980er-Jahren, sondern auch wegen ihrer persönlichen Geschichte. In ihrem neuen Buch „The Escape“, das sie gemeinsam mit Enthüllungsjournalist David Walsh geschrieben hat, blickt die 66-Jährige schonungslos offen auf ihr Leben zurück: auf Siege, Schmerz, Einsamkeit – und auf den langen Weg zur Selbstakzeptanz.
York, die zwischen 1980 und 1995 als Robert Millar fuhr, galt als einer der besten Bergfahrer ihrer Zeit. 1984 belegte sie Platz zwei bei der Vuelta a Espana – ein bis dahin unerreichter Erfolg für einen britischen Fahrer. Im selben Jahr gewann sie das Bergtrikot der Tour de France. Der Sport war ihre Bühne, ihr Schutzschild – aber nie ein Ort der inneren Ruhe.
„In den Gorbals, wo ich aufgewachsen bin, gab es keine LGBTQ-Gemeinschaft“, sagt sie im Interview mit The Guardian. „Wenn ich David Bowie bei Top of the Pops sah, dachte ich: ‚Oh, der ist interessant‘, aber er war kein Vorbild. Ich dachte nicht, dass ich alles sein könnte, was ich wollte.“
Erst nach dem Ende ihrer Karriere wagte sie 2000 den öffentlichen Schritt – und sprach erstmals über ihre Geschlechtsidentität. Jahrzehntelang hatte sie unterdrückt, verdrängt, funktioniert. „Ich wusste, dass ich anders bin, seit ich fünf Jahre alt war“, sagt sie. „Aber man lernt, Angst zu haben – davor, geoutet zu werden, davor, nicht dazuzugehören.“
Der Radrennsport wurde zur Flucht. „Im Rennen verarbeitest du die Außenwelt nicht“, beschreibt sie den Tunnelblick, der ihr half, sich von gesellschaftlichem Druck abzuschotten. Doch der Preis war hoch. Beleidigungen, Isolation und ein Panzer, der sie schließlich innerlich erdrückte. Nach dem Karriereende kam der Einbruch. „Ich wusste nicht mehr, wer ich war. Der Radfahrer war weg. Dann kam die Frage: Mache ich den Übergang – oder nicht?“
Es dauerte Jahre, bis sie Hilfe suchte. „Ich war sehr, sehr depressiv“, gibt sie zu. „Ich habe nie an Suizid gedacht, aber ich verstand, warum andere es tun.“
Yorks Buch ist kein Manifest, sondern ein Mosaik aus Erinnerungen, Zweifeln und Einsichten. Ihre Reflexion über die eigene Identität trifft einen Nerv – auch in einer Zeit, in der Transpersonen im Sport oft unter Generalverdacht gestellt werden.
„Ich würde mich fragen, ob sie einen Vorteil haben“, sagt York zur aktuellen Debatte um Transfrauen im Leistungssport. „Aber ich würde mir ihre Leistungen ansehen. Sind sie besser, weil sie als Mann geboren wurden – oder weil sie einfach mehr Talent haben?“
Dass die Debatte oft auf ein biologisches Schwarz-Weiß reduziert wird, kritisiert sie scharf. „Testosteron ist nur ein Teil eines komplexen Systems. Die Leute verstehen die physiologischen Veränderungen nicht – ihr Testosteron sinkt auf Null. Es geht nicht nur um Kraft, sondern auch um Reparaturprozesse und langfristige Anpassung.“
Dass ausgerechnet British Cycling, einst ihr Verband, eine harte Linie fährt, trifft sie. „Es gab Mitarbeitende, die einen Brief unterzeichnet haben, um Transfrauen vom Frauensport auszuschließen“, sagt sie. „In jeder anderen Organisation würden diese Leute entlassen.“
British Cycling hingegen verteidigt sich mit Verweis auf Fairness und Sicherheit. Transfrauen sind dort ausschließlich in der offenen Kategorie startberechtigt. „Wir glauben fest daran, dass der Radsport für alle da ist“, so ein Sprecher. Doch York sieht in der aktuellen Politik eher Ausschluss als Integration – auch wenn sie den Begriff „transphob“ nicht leichtfertig verwenden will.
Inzwischen ist Philipa York eine gefragte Radsportanalystin – präzise, respektiert, unverstellt. Ihr öffentlicher Weg inspiriert andere Athlet*innen, darunter Laurel Hubbard, Kristen Worley und CeCe Telfer. Doch ihre Geschichte steht für mehr als eine Identität: Sie steht für das Überleben in einem System, das lange keine Sprache hatte für Menschen wie sie.
„Ich habe das als Erwachsene gelernt – wie man sich verhält, wie man sich schützt, wie man existiert“, sagt sie. Was bleibt, ist eine Stimme, die nicht laut sein muss, um Gehör zu finden – aber klar, reflektiert und mutig in einer Debatte, die noch lange nicht zu Ende ist.
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