Giro-Debatte nach Etappe 9: Del Toro begeistert, UAE taumelt – und der Schotter entzweit die Experte

Radsport
Dienstag, 20 Mai 2025 um 12:15
johan bruyneel opinion ciclismo
Während sich der Staub nach der 9. Etappe des Giro d’Italia 2025 legt und die zweite Woche der Rundfahrt beginnt, nutzten Johan Bruyneel, George Hincapie und Spencer Martin im „The Move“-Podcast die Gelegenheit, um eine umfassende Zwischenbilanz zu ziehen. Der Fokus: der spektakuläre Etappensieg von Wout van Aert auf den Schotterstraßen von Siena, das Aufkommen des 21-jährigen Isaac Del Toro im Rosa Trikot – und die zunehmenden Zweifel an der Taktik des Teams UAE Team Emirates ohne Tadej Pogacar.

Ein Etappensieg mit Symbolkraft – und eine neue Nummer eins

Die 9. Etappe war mehr als ein Rennen – sie war ein Schlüsselmoment. Wout van Aert holte sich mit einem perfekt getimten Sprint den Sieg auf einem Terrain, das dem Finale der Strade Bianche nachempfunden war. Doch während der Belgier als Held gefeiert wurde, rückte ein anderer Fahrer noch stärker in den Mittelpunkt: Isaac Del Toro. Der junge Mexikaner übernahm nicht nur das Rosa Trikot, sondern, wie Bruyneel formulierte, „vielleicht etwas Dauerhafteres – Legitimität“.
Del Toros Leistung wurde im Podcast unisono gewürdigt. „Er hat keine Kette“, lobte Bruyneel. „Er fliegt einfach – der Kerl ist Feuer und Flamme.“ Hincapie ergänzte, dass Del Toros Trainingsdaten über den Winter beeindruckend gewesen seien: regelmäßige Einheiten über vier Stunden mit 380 bis 400 Watt auf welligem Terrain.
Ist Ayuso immer noch der Anführer der VAE?
Ist Ayuso immer noch der Anführer der VAE?

UAE-Team Emirates: Viel Talent mit Taktikchaos?

Trotz der Dominanz in der Spitze – vier Fahrer unter den Top 9 – wirkte UAE taktisch desorientiert. Ohne Pogacar, so die einhellige Meinung der Runde, fehlt es an klarer Führung und Strategie. Bruyneel wurde deutlich: „Jedes Rennen, bei dem Pogacar nicht dabei ist, ist bei UAE taktisches Chaos.“ Spencer Martin ging noch einen Schritt weiter: „Haben sie durch die gestrige Etappe einen Teamkollegen verloren – und einen Rivalen gewonnen?“
Die Diskussion dreht sich um mögliche interne Absprachen. Ayuso dürfte vor dem Giro als nomineller Leader bestimmt worden sein. Doch nach Del Toros Leistung stellt sich die Frage, ob die Hackordnung noch Gültigkeit hat. „Zu viele Ambitionen in einem Team – das geht selten gut“, warnte Bruyneel. Auch Hincapie merkte an: „Sie hatten offensichtlich nicht das Vertrauen in Del Toro, das sie in Ayuso haben – aber vielleicht haben sie es jetzt.“

Schotterstraßen – spektakulär oder rücksichtslos?

Ein zentrales Thema der Analyse war die grundsätzliche Frage nach dem Platz von Schotteretappen in einer Grand Tour. Bruyneel äußerte sich kritisch. „Wenn man will, dass der Profiradsport ein Zirkus ist, dann haben solche Etappen ihren Platz“, sagte er. „Aber aus Sicht eines Teammanagers, der Millionen investiert, sieht das anders aus.“ Schotter bringe unkontrollierbare Risiken in eine Disziplin, die eigentlich Kontrolle und Strategie belohnen sollte.
Hincapie hingegen vertrat eine offenere Haltung. „Diese Etappen fordern das komplette Können eines Fahrers und die beste Ausrüstung“, sagte er. Außerdem erfüllten sie auch einen wirtschaftlichen Zweck: „Radsport ist auch Marketing. Marken wollen beweisen, dass ihr Material selbst auf brutalstem Terrain funktioniert – das verkauft sich.“

Roglics Sturz, Van Aerts Auferstehung – und Red Bull-BORA in der Kritik

Primoz Roglic, Topfavorit vor dem Start, stürzte auf der Etappe und fiel auf Rang zehn zurück. Bruyneel übte scharfe Kritik an seinem Team: „Ohne Pelizzari wäre er jedes Mal allein gewesen. Red Bull – BORA – hansgrohe war praktisch unsichtbar. Sie haben Jay Hindley früh verloren, aber das erklärt nicht alles.“
Ganz anders das Bild bei Wout van Aert. Der Belgier dachte zunächst, er habe die entscheidende Ausreißergruppe verpasst – und gewann am Ende doch. „Er hat die wohl größte Etappe des Giro gewonnen, nachdem er glaubte, keine Chance mehr zu haben“, sagte Spencer Martin. Bruyneel erinnerte an 2018, als Van Aert in Siena seinen Durchbruch als Straßenfahrer feierte: „Das war symbolisch. Er ist ein Kämpfer.“

Bernal rückt näher – der alte Egan ist zurück

Neben Del Toro und Van Aert rückte auch Egan Bernal wieder stärker in den Fokus. Der Kolumbianer überzeugte erneut und machte deutlich, dass er im Gesamtklassement ein Wörtchen mitreden möchte. „Ich würde nicht ausschließen, dass er den Giro gewinnen kann“, sagte Bruyneel. „An dem Tag, an dem er Dritter wurde, als Ayuso gewann, war er richtig sauer. Man sieht: Der alte Bernal ist wieder da.“

Kann Del Toro das durchhalten?

Trotz seiner Führung bleibt die Frage, ob Isaac Del Toro mit 21 Jahren tatsächlich eine Grand Tour gewinnen kann. „Wissen Sie, wie viele 21-Jährige in den letzten 100 Jahren eine Grand Tour gewonnen haben? Zwei. Einer davon war Tadej Pogacar“, warf Martin ein. Bruyneel gab sich vorsichtig optimistisch: „Er ist in großartiger Form. Sie müssen jetzt für ihn fahren.“

Eine offene Rundfahrt mit vielen Fragezeichen

Die zweite Woche des Giro verspricht Spannung. Mit Bernal, Carapaz, Ayuso, Roglic und Del Toro ist die Spitze prominent besetzt – und niemand scheint unangreifbar. „Wenn wir in die Berge der zweiten und dritten Woche kommen, kann sich alles verändern“, so Hincapie.
Doch vielleicht ist die bedeutendste Veränderung bereits geschehen – intern bei UAE. Trotz Kritik an der Taktik war das Ergebnis der Etappe für das Team mehr als ordentlich. „Ayuso hat keine Zeit auf Roglic verloren – das war definitiv ein Sieg für UAE“, räumte Hincapie ein. Und Bruyneel fasste zusammen: „Del Toro hat alles richtig gemacht. Und jetzt, wo er das Trikot hat – wer weiß, vielleicht trägt er es bis Rom.“
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