Die fünfte Etappe der
Tour de Suisse war wohl die Königsetappe dieser Ausgabe – und sie hielt, was sie versprach. Das Rennen wurde komplett auf den Kopf gestellt und sorgte für großes Chaos in der Gesamtwertung.
Eine starke Ausreißergruppe setzte sich früh ab, darunter kletterstarke Fahrer wie Neilson Powless, Pello Bilbao und Aleksandr Vlasov. Doch der Vorsprung reichte nie aus, um realistische Hoffnungen auf den Etappensieg zu haben.
Nach zwei Anstiegen der ersten Kategorie in der ersten Rennhälfte ging es auf die entscheidende doppelte Auffahrt nach Castaneda (4,5 km mit 9,8 % Steigung). Wie erwartet explodierte dort das Rennen – das Hauptfeld wurde stark ausgedünnt.
Gesamtführender Romain Grégoire verlor im steilsten Abschnitt den Anschluss und konnte nicht mehr zurückkommen. Während der Abfahrt nach dem ersten Anstieg blieben die Favoriten noch zusammen, doch der zweite Anstieg sprengte die Gruppe endgültig.
Oscar Onley und João Almeida erwiesen sich als die stärksten Fahrer des Tages, distanzierten ihre Konkurrenten und kamen gemeinsam ins Ziel. Onley setzte sich im Zielsprint knapp gegen den Portugiesen durch, während Felix Gall den dritten Platz belegte. Kévin Vauquelin wurde Vierter und übernahm das Gelbe Trikot von Grégoire, der fast sieben Minuten verlor und aus den Top 10 fiel.
Nach der Etappe baten wir einige unserer Redakteure um ihre Einschätzung und die wichtigsten Erkenntnisse des Tages.
Jorge P. Borreguero (CiclismoAlDía)
Joao Almeida beweist einmal mehr, dass er mehr Leben hat als eine Katze. Obwohl er auf dem letzten Anstieg nach Castaneda zu kämpfen hatte, als Julian Alaphilippe attackierte, bewahrte der Portugiese einen kühlen Kopf und fuhr das Rennen taktisch perfekt, um im entscheidenden Moment wieder zur Spitze aufzuschließen.
Am Ende lief alles auf ein Duell mit Oscar Onley hinaus – das der Brite im Zielsprint knapp für sich entschied. Auch wenn Almeida nach all seinem Einsatz mit dem zweiten Platz womöglich nicht ganz zufrieden war, kann er auf dieses Ergebnis sehr stolz sein.
Nach der ersten Etappe hatte João Almeida selbst gesagt, dass er kaum an ein Comeback glaube. Doch nun ist es zum Greifen nah: Nur 39 Sekunden liegt er hinter dem neuen Träger des Gelben Trikots, Kévin Vauquelin. Der Kapitän von UAE Team Emirates ist damit erneut der große Favorit auf den Gesamtsieg – vorausgesetzt, es kommt zu keinen größeren Überraschungen vor dem abschließenden Einzelzeitfahren.
Mit Blick auf die Tour de France wäre ein Gesamtsieg von João Almeida bei der Tour de Suisse eine großartige Nachricht für Tadej Pogacar. Der Slowene könnte dann mit einem Edelhelfer zur Grande Boucle reisen, der gerade drei einwöchige WorldTour-Rundfahrten in Serie gewonnen hätte: das Itzulia Basque Country, die Tour de Romandie und nun auch die Tour de Suisse.
Ivan Silva (CiclismoAtual)
Na na na, das ist mal wirklich eine Comeback-Geschichte. João Almeida zeigt eindrucksvoll, warum er vor dem Start als Top-Favorit gehandelt wurde – und die Realität ist: Er ist aktuell der stärkste Fahrer im gesamten Peloton der Tour de Suisse. Er hat sich Bonifikationssekunden im Sprint gesichert, ist mit Langstreckenattacken in den Hochalpen davongezogen und hat das Feld an steilen Rampen gesprengt. Wenn es einen Fahrer gibt, der den Gesamtsieg bei dieser Ausgabe wirklich verdient hat, dann ist es er.
Heute sahen wir eine Etappe, die eher den Puncheuren als den reinen Bergfahrern entgegenkam – und am Ende gewann auch ein explosiver Fahrer. Oscar Onley gehört wohl zu den meist unterschätzten Puncheuren im Feld, aber heute hat er groß aufgetrumpft. Auch
Kevin Vauquelin hat mich nicht überrascht – seine Konstanz in diesem Rennen und seine Leistungen bei Rennen wie dem Flèche Wallonne oder Etappe 2 der Tour 2024 sprechen für sich.
Eine positive Überraschung war für mich Julian Alaphilippe. Er zeigt ein Niveau, das ich ehrlich gesagt seit seinen Jahren als Weltmeister nicht mehr von ihm gesehen habe. Auf der negativen Seite hat mich Romain Grégoire enttäuscht – er war viel zu früh leergefahren. Ich hatte erwartet, dass er sich stärker gegen seine französischen Rivalen wehrt.
Insgesamt sieht die Lage für Almeida sehr gut aus, und ich bin zuversichtlich, dass er mit den 39 Sekunden Rückstand auf Vauquelin die Tour de Suisse gewinnen wird.
Félix Serna (CyclingUpToDate)
Joao Almeida wurde heute erneut auf die Probe gestellt – und hat sie souverän bestanden. UAE hat konsequent für ihn gearbeitet, es war ihrer Tempoarbeit zu verdanken, dass die Ausreißergruppe wieder gestellt wurde. Sie haben das anfängliche Chaos der ersten Etappen in ein geordnetes Rennen verwandelt.
Romain Grégoire hat überraschend früh eingebüßt – nach den starken Leistungen der ersten vier Tage kam das unerwartet. Damit verabschiedet er sich aus dem Kampf um das Gesamtklassement. Schade, aber er kann trotzdem zufrieden sein. Er hat sehr starke Beine gezeigt und wird bei der Tour de France sicher ein gefährlicher Faktor sein.
Julian Alaphilippe scheint rechtzeitig zur Tour wieder seine Bestform zu erreichen. Tudor wird auf genau diese Version von ihm angewiesen sein – beim Giro war das Team kaum präsent. Jetzt müssen sie zeigen, dass die Wildcard der Tour-Organisation gerechtfertigt war.
Die Rennsituation ist nun hochspannend. Vauquelin trägt das Gelbe Trikot und liegt 39 Sekunden vor Almeida. Auch wenn der Portugiese aktuell in beeindruckender Form ist, gilt das Gleiche für Vauquelin. Von den drei verbleibenden Etappen dürfte morgen eine Angelegenheit für die Sprinter werden. Am Samstag endet die Etappe zwar mit einem Anstieg, ist insgesamt aber weniger selektiv als heute.
Ich denke, Vauquelin wird das Trikot am Samstag nicht verlieren – alles läuft auf das abschließende Bergzeitfahren am Sonntag hinaus. Dort ist Almeida sicher der Favorit, aber Vauquelin ist ein exzellenter Zeitfahrer, gerade bergauf – er hat Anfang des Jahres bei der Étoile de Bessèges einen solchen Kurs bereits gewonnen. Die Entscheidung im Gesamtklassement dürfte dort fallen – und es wird extrem knapp.
Oscar Onley hat heute den Etappensieg geholt und dabei wichtige UCI-Punkte für Picnic PostNL gesammelt – erst sein zweiter Profisieg. Obwohl er in der Gesamtwertung Vierter ist, sehe ich ihn nicht als Kandidaten für den Gesamtsieg. Eine Minute auf Almeida oder 1:21 auf Vauquelin aufzuholen, halte ich für unrealistisch. Aber Alaphilippe kann er sehr wohl noch überholen. Der kletterte heute gut – für seine Verhältnisse – aber man sah ihm in den letzten Kilometern deutlich an, dass es hart wurde.
Eine besondere Erwähnung gilt Visma: Das Team war während der gesamten Rundfahrt nahezu unsichtbar. Ihr bester Mann heute war Bart Lemmen, der eigentlich auf die Gesamtwertung fahren sollte – und kam über 13 Minuten nach Onley und Almeida ins Ziel…
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