Die größten Radsportteams sind ständig auf der Jagd nach den vielversprechendsten Nachwuchstalenten. Die Hoffnung, den nächsten
Remco Evenepoel oder
Tadej Pogacar zu finden, ist riesig – doch dabei drohen wichtige Schritte in der Entwicklung übersprungen zu werden. Davor warnt jedenfalls Cole Kessler, der in den vergangenen beiden Jahren für das Nachwuchsprogramm von
Lidl-Trek, Future Racing, gefahren ist.
Der US-Zeitfahrmeister der U23 verlässt die Nachwuchskategorie nach dieser Saison und steht Gerüchten zufolge vor einem Wechsel zum neuen US-ProTeam Modern Adventure Pro Cycling. Als kräftiger Allrounder mit starkem Motor ist klar, dass Kessler gerne in die Fußstapfen von Landsmann
Quinn Simmons treten und ein weiterer offensivfreudiger US-Profi werden möchte.
„Ich sehe mich definitiv als Ausreißer. Um heutzutage aus einer Gruppe heraus zu gewinnen, muss man unglaublich robust sein“, erklärte Kessler im Domestique Hotseat-Podcast. „Man muss schwere Anstiege überstehen können. Wenn man bei einer Tour-Etappe aus der Gruppe heraus siegen will, sind es meistens hügelige Tage.“
Simmons dient ihm dabei als Vorbild – ein Fahrer, der nicht dem klassischen Klettererprofil entspricht und dennoch auf anspruchsvollen Strecken brilliert. „Er ist ein großartiges Beispiel: kein Bergfloh, aber dank seiner Stärke trotzdem in der Lage, auf harten Kursen abzuliefern“, sagte Kessler und verwies auf Simmons’ beeindruckenden vierten Platz bei Il Lombardia, nachdem er sich früh abgesetzt hatte.
Auch menschlich hat Kessler bei Lidl-Trek einiges mitgenommen – besonders von Tim „El Tractor“ Declercq. „Zu Tim habe ich immer aufgeschaut“, beschreibt er. „Als er zum Team kam, war es super, in Trainingslagern mit ihm zu sprechen und von seiner Erfahrung zu profitieren. Ich liebe es, lange von vorne zu fahren und anderen richtig weh zu tun. Das macht mir einfach Spaß.“
Quinn Simmons war der Held von 2025 Il Lombardia
Ausreißversuche waren schon immer ein fester Bestandteil des Radsports – und sie sind es auch heute noch. Dennoch scheinen in den vergangenen Jahren weniger dieser magischen Ausreißer-Märchen Realität zu werden. Cole Kessler hat eine klare Meinung dazu, warum das so ist.
„Der Niedergang der Ausreißer hängt vermutlich vor allem mit dem UAE Team Emirates und deren Fahrweise zusammen“, erklärt er. „Damit Pogačar erfolgreich sein kann, wird über den gesamten Tag hinweg ein so hohes Tempo gefahren, dass es für viele kaum möglich ist, sich abzusetzen.“
Trotzdem glaubt Kessler nicht, dass die Kunst der Flucht ausstirbt – im Gegenteil: „Natürlich gibt es noch Ausreißer. Man sieht bei der Tour ja, wie in der ersten Stunde verzweifelt um die Gruppe gekämpft wird. Jeder will unbedingt da vorne rein. Das hat seinen Grund.“
Zu früh, zu schnell
Nach Remco Evenepoel wechselte auch Quinn Simmons 2020 direkt von den Junioren in die WorldTour. Doch im Gegensatz zum Belgier musste Simmons schnell feststellen, dass der Sprung an die absolute Spitze härter ist als gedacht. Seine Entwicklung stagnierte über längere Zeit, und erst 2025 gelang ihm der Durchbruch, den viele bereits früher erwartet hatten.
Auch Talente wie Paul Seixas und Albert Withen Philipsen wagten ohne Umweg über die U23-Kategorie den direkten Weg in die erste Liga des Radsports – bislang mit beachtlichem Erfolg. Dennoch warnt Kessler davor, dass dieser Trend langfristig nach hinten losgehen könnte. Der Ausdauersport brauche Zeit, um sich körperlich wie mental zu entfalten.
„Eigentlich sollte niemand direkt aus der Juniorenklasse in die WorldTour wechseln“, sagt Kessler deutlich. „Man sieht schließlich auch nicht viele Jungs, die direkt von der High School in die Major Leagues kommen und mit 18 Jahren in der World Series spielen.“
„Alle wollen den nächsten Remco, den nächsten Pogačar finden. Und so verpflichten Teams 15-, 16-, 17- und 18-Jährige für WorldTour-Projekte und vergessen dabei, wie Ausdauersport funktioniert: Man wird besser, wenn man älter wird. Wer mit 18 schon sehr gut ist, sollte trotzdem vorsichtig sein. Zwei Jahre U23 können Gold wert sein, bevor man den großen Sprung wagt.“