Jonas Vingegaard reiste am Sonntag mit einer klaren Mission zum europäischen Straßenrennen – und mit einem selten offenen Eingeständnis. Der Däne weiß, dass er den Code der Eintagesrennen noch nicht entschlüsselt hat. Frankreich sollte sein Experimentierfeld werden. Stattdessen endete das Unterfangen früh: An der Côte de Saint-Romain-de-Lerps wurde Vingegaard nach 108 Kilometern abgehängt und kurz darauf aus dem Rennen genommen. Keine Rückkehr ins Wettkampfgeschehen, wie er sie sich nach seinem Vueltasieg erhofft hatte. Der Kontrast zu seinem beeindruckenden Grand-Tour-Image hätte kaum größer sein können.
„Ich bin in letzter Zeit nicht viele Eintagesrennen gefahren, weil ich noch nicht wirklich herausgefunden habe, wie ich bei diesen Rennen fahren kann“, erklärte er im Vorfeld gegenüber Wielerflits. Das sind keine Worte eines Mannes, der Ausreden sucht – sondern die eines Champions, der versteht, dass ein Klassiker nicht einfach eine verkürzte Grand Tour ist. Eintagesrennen folgen ihren eigenen Gesetzen, geprägt von Chaos, Positionierung und explosiver Härte.
Vingegaards ganzer Trainings- und Rennplan ist auf das Langzeitspiel ausgelegt: auf gleichmäßige Belastungen, auf mehrstündige Steigungen, auf kontrolliertes Tempo. Genau dort ist er nahezu unschlagbar: zweimaliger Tour-de-France-Sieger, dazu ein weiterer zweiter Platz bei der Tour 2025 und der Sieg bei der Vuelta a España. Doch all das schützt nicht vor der Erkenntnis, dass man das hektische, taktisch unberechenbare Vokabular der Klassiker erst lernen muss.
Der Sonntag zeigte es gnadenlos. Vingegaard verlor in dem Moment den Anschluss, als das Rennen in seine entscheidende Phase überging – als schnelle Reaktionen und ständige Neuplatzierungen gefragt waren. „Wenn ich bei dieser
Europameisterschaft das Rezept für Eintagesrennen finde, würde ich in Zukunft gerne mehr davon fahren“, hatte er noch vor dem Start gesagt. Die Suche nach diesem Rezept blieb erfolglos.
Warum gelingt es einem Fahrer, der seine Gegner über Alpenpässe zerlegt, nicht, dieselbe Dominanz an einem einzigen Tag zu zeigen? Der Unterschied liegt im Rhythmus. Die gleichmäßigen, schwellenorientierten Belastungen einer Grand Tour unterscheiden sich völlig von den unvorhersehbaren, wiederkehrenden Antritten und Tempowechseln eines Klassikers. Vingegaard selbst spricht von Unsicherheiten in der Vorbereitung: „Ich finde es schwierig herauszufinden, was ich am Tag vor einem Eintagesrennen tun muss – was ich tun muss, um gut darin zu sein.“
Physisch mangelt es ihm nicht an Explosivität – das zeigte er zu Beginn der diesjährigen Tour. Vielleicht ist es eher eine mentale oder taktische Hürde. Denn Erfahrung ist im Klassiker-Kalender ein entscheidender Faktor. Seit 2022 hat Vingegaard kaum Eintagesrennen bestritten. Seine letzten fünf Resultate sprechen Bände: 2024 San Sebastián DNF, 2022 Il Lombardia 16., 2022 Lüttich–Bastogne–Lüttich DNF, 2022 Flèche Wallonne DNF, 2022 GP Denain 76. Nur einmal stand er ganz oben – bei der Drôme Classic, „aber das war am Tag nach einem anderen Rennen, also eigentlich kein richtiges Eintagesrennen“, wie er selbst sagt.
Auch die Rennarchitektur spielt eine Rolle. Bei der Tour kann Visma | Lease a Bike das Rennen für ihn gestalten, das Tempo bestimmen, den Chaosfaktor minimieren. Bei einem Meisterschaftsrennen mit Nationalteams ist er dagegen Teil eines unberechenbaren Gefüges – mit weniger Kontrolle und mehr Zufall. Jeder Positionsfehler kann das Ende bedeuten. Seine Rivalen wissen das.
„Tadej und ich sind in Form, Jonas ist noch ein Fragezeichen“, sagte Remco Evenepoel vor dem Start. „Eintagesrennen waren in der Vergangenheit eine Schwachstelle für ihn.“ Der Belgier sollte recht behalten: Während er selbst und Pogacar um die Medaillen kämpften, war Vingegaards Tag längst vorbei.
Dänemarks Nationaltrainer Michael Mørkøv widerspricht dennoch: „Ich glaube nicht, dass Jonas an einem Tag schwach ist. Er hat in Auftaktetappen oft beeindruckend abgeliefert.“ Er verweist auf das Critérium du Dauphiné, wo Vingegaard das Rennen gleich zu Beginn prägte. „Das unterscheidet sich kaum von einem Eintagesrennen“, meint Mørkøv – eine Sichtweise, die zeigt, dass es nicht an der reinen Leistungsfähigkeit liegt.
Vielleicht war es schlicht der Kalender. Nach dem intensiven Doppel aus Tour und Vuelta blieb kaum Raum für gezielte Klassiker-Vorbereitung. Während Pogacar und Evenepoel im August regenerierten und neu aufbauten, kämpfte Vingegaard in Spanien um den Gesamtsieg. Am Ende standen am Sonntag zwei Sieger-Typen nebeneinander – der eine frisch, der andere ausgelaugt.
Vingegaard weiß, dass er bei Eintagesrennen noch kein Meister ist. Für jemanden, der den Juli und September beherrscht, bleibt das Fehlen im Frühjahr paradox. Doch vielleicht misst man ihn zu sehr an seinem ewigen Rivalen Pogacar, der scheinbar alles kann.
Vorerst bleibt das Bild zweigeteilt: Jonas Vingegaard, der Dominator der Grand Tours, gegen Jonas Vingegaard, der Suchende der Klassiker. Der Mann, der am Sonntag in Frankreich zugeben musste, dass das Rezept für den Erfolg bei Eintagesrennen weiterhin ein Rätsel bleibt – und der es, Stand jetzt, noch nicht gefunden hat.