Jedes Jahr im Mai verwandelt sich Italien in ein Fest der Farben, der Emotionen und des Radsports. Wenn die Straßen mit rosa Bannern geschmückt sind und die Bergdörfer von erwartungsvollen Zuschauern bevölkert werden, ist klar: Der Giro d’Italia steht bevor. Am Freitag, dem 9. Mai, fällt der Startschuss für die 108. Ausgabe der legendären Rundfahrt – ein Ereignis, das weit über den sportlichen Rahmen hinausgeht. Der Giro ist Teil der italienischen Identität, ein nationales Ritual, das Geschichten von Triumph, Tragik und unerschütterlicher Leidenschaft erzählt.
Die Geburt der Corsa Rosa
Der Ursprung des Giro reicht zurück ins Jahr 1909. Damals suchte die Gazzetta dello Sport nach einer Möglichkeit, ihre Auflage zu steigern – inspiriert vom Erfolg der Tour de France. Die Idee einer Rundfahrt durch Italien war geboren. Schon bald wurde das Rennen untrennbar mit der Zeitung verknüpft, die auf rosa Papier gedruckt wurde. 1931 führte man das maglia rosa ein – das Trikot für den Gesamtführenden, dessen Farbe eine Hommage an die Gazzetta ist. Es wurde zum Symbol für sportliche Exzellenz und nationalen Stolz.
Bis auf wenige Ausnahmen während der Weltkriege rollte der Giro Jahr für Jahr über Italiens Straßen. Die Strecke wurde länger, die Etappen anspruchsvoller, das Teilnehmerfeld internationaler. Doch eines blieb konstant: der Kampf gegen die Elemente, gegen den Schmerz – und der Traum vom rosa Trikot.
Ein Land feiert sich selbst
Für Italien ist der Giro mehr als ein Rennen – er ist ein Volksfest. Entlang der Strecke versammeln sich Menschen jeden Alters, von Schulkindern bis zu Veteranen des Radsports. Familien wandern in den frühen Morgenstunden zu den Pässen, bauen Picknickdecken auf und warten stundenlang auf das Peloton. Der Giro bringt Menschen zusammen – in Städten, in Dörfern, auf Berggipfeln. Er ist gelebte Gemeinschaft.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Rennen zum Symbol des Wiederaufbaus. Die Ausgabe von 1946 führte durch ein vom Krieg gezeichnetes Land – doch sie brachte Hoffnung, Einheit und ein Gefühl von Normalität zurück.
Die Seele des Giro: Die Berge
Die Alpen und Dolomiten sind das Herzstück des Giro – schön, gnadenlos und prägend. Hier schreiben sich Dramen in den Asphalt. 1956, Monte Bondone: Ein Schneesturm wütet, Charly Gaul trotzt der Kälte, wärmt sich mit Schnaps und siegt in epischer Manier. 1988, Passo di Gavia: Andy Hampsten kämpft sich durch Eis und Schnee, übernimmt die Gesamtführung – und schreibt Geschichte als erster amerikanischer Giro-Sieger.
2018 setzte Chris Froome ein Ausrufezeichen. Mit einer 80 Kilometer langen Soloattacke über den Colle delle Finestre entriss er der Konkurrenz das Rennen. Eine Etappe, die heute als eine der größten Leistungen in der Geschichte des modernen Radsports gilt.
Rivalitäten, Helden, Legenden
Der Giro lebt auch von den Persönlichkeiten, die ihn prägten – und von den Rivalitäten, die Italien spalteten und zugleich vereinten.
Fausto Coppi gegen
Gino Bartali: Der elegante Fortschrittsmensch gegen den gläubigen Traditionalisten. Ihr Duell in der Nachkriegszeit, etwa auf der Etappe Cuneo–Pinerolo 1949, ist bis heute Legende. Radiomoderator Mario Ferrettis Worte – „Ein einsamer Mann ist an der Spitze… sein Name ist Fausto Coppi!“ – hallen noch immer in den Herzen der Tifosi wider.
In den 1990er Jahren war es
Marco Pantani, der das Land in Ekstase versetzte. Der „Pirata“ tanzte förmlich die Dolomiten hinauf, gewann 1998 den Giro und die Tour – ein doppelt historischer Triumph. Doch sein Fall war tief. 1999 wurde er unter Dopingverdacht vom Rennen ausgeschlossen, seine Karriere zerbrach, 2004 starb er mit nur 34 Jahren. Pantanis Aufstieg und Absturz spiegeln die emotionale Tiefe des Giro wider – Triumph und Tragik liegen hier oft dicht beieinander.
Geschichte in Bewegung
Jede Ausgabe des Giro fügt ein neues Kapitel zur Geschichte hinzu. Vincenzo Nibalis Wende im Jahr 2016, Tao Geoghegan Harts Überraschungssieg 2020 oder die jüngsten Heldentaten eines
Tadej Pogacar: Der Giro bleibt unberechenbar – und genau das macht seinen Reiz aus.
Trotz der größeren medialen Präsenz der Tour de France hat der Giro seinen festen Platz in der Welt des Sports – vielleicht sogar den schönsten. Er bietet Drama, Nähe, Authentizität. Das maglia rosa steht nicht nur für Erfolg, sondern für das Erbe eines Rennens, das tief in der Seele Italiens verwurzelt ist.
Ein Rennen, das berührt
Fragt man einen Italiener nach dem Giro, spricht er nicht nur über Etappen oder Siegerzeiten. Er spricht über die Magie, die durch ein kleines Dorf zieht, wenn das Peloton vorbeirauscht. Über das Kribbeln, wenn ein Außenseiter in Rosa fährt. Über die Tränen, wenn die Hymne spielt.
Der Giro d’Italia ist mehr als ein Sportereignis – er ist ein kulturelles Bekenntnis, ein emotionaler Spiegel einer Nation. Er zeigt, dass der Weg zum Ruhm durch Schmerz führen kann – und dass genau darin seine Schönheit liegt.