Der Mont Ventoux – der „Riese der Provence“ – zählt zu den mythenumwobensten Anstiegen des Radsports. Mit seinem kahlen, mondähnlichen Gipfel, unberechenbaren Winden und der gnadenlosen Steigung steht der Berg für Extreme – sportlich, emotional und historisch. Die
Tour de France meidet ihn oft, was seine Auftritte umso bedeutungsvoller macht. Heute, bei Etappe 16, erklimmt das Peloton erstmals seit 2021 wieder diesen ikonischen Anstieg – eine Erinnerung daran, wie selten und besonders eine Ventoux-Etappe ist.
Ein Blick zurück zeigt, warum der Berg mehr ist als nur ein Prüfstein für die Beine – er ist Bühne für Triumphe, Tragödien und unvergessliche Dramen.
Der Tod von Tom Simpson – Mahnmal der menschlichen Grenze
Der vielleicht dunkelste Moment am Ventoux ereignete sich 1967. Tom Simpson, einer der populärsten britischen Radsportler seiner Zeit, brach während der 13. Etappe an den Flanken des Ventoux zusammen und starb nur einen Kilometer vor dem Gipfel. Es war ein heißer Julitag, und Simpson, unterstützt von einer gefährlichen Mischung aus Alkohol und Amphetaminen, fuhr über seine Grenzen hinaus. Trotz sofortiger Hilfe kam jede Rettung zu spät.
Bis heute steht am Ort seines Sturzes ein schlichtes Denkmal. Viele Profis ziehen dort die Mütze oder lassen eine Trinkflasche zurück. Simpons Tod markiert einen Wendepunkt in der Geschichte des Radsports – als eindringliche Erinnerung an die Gefahren des Dopings und die Grausamkeit dieses Berges.
Eddy Merckx: Sieger und Opfer zugleich
Auch der größte Fahrer aller Zeiten wurde vom Ventoux gezeichnet.
Eddy Merckx triumphierte hier 1970 – doch sein Etappensieg hatte einen hohen Preis. Der Belgier dominierte zwar das Rennen, doch der Kampf gegen den Berg kostete ihn beinahe die Besinnung. Im Ziel benötigte Merckx Sauerstoff – ein seltener Moment der Schwäche beim sonst so überlegenen „Cannibal“. Es war ein Sieg, der Größe zeigte – und zugleich die brutale Härte des Ventoux offenbarte.
Armstrong vs. Pantani – Duell mit Nachklang
Im Jahr 2000 lieferten sich
Lance Armstrong und
Marco Pantani ein ikonisches, wenn auch umstrittenes Duell am Ventoux. Armstrong – im Gelben Trikot – ließ Pantani auf den letzten Metern gewähren, angeblich aus Respekt. Pantani aber fühlte sich bevormundet, das Verhältnis zwischen beiden zerbrach endgültig. In der Rückschau wirkt die Szene wie ein symbolisches Spiegelbild einer Ära, die tief im Dopingsumpf steckte. Pantani starb vier Jahre später tragisch, Armstrongs Fall ist längst sporthistorisch – und doch bleibt dieser Moment auf dem Ventoux ein Bild mit Wucht.
Chris Froome: zwischen Triumph und Chaos
Chris Froomes Geschichte am Ventoux ist geprägt von Kontrasten. 2013 deklassierte er die Konkurrenz mit einem beeindruckenden Solo-Sieg – ein Meisterwerk der Kontrolle und Kraft. Doch drei Jahre später wurde der Brite zum Sinnbild für das Unvorhersehbare dieses Anstiegs: Nach einem Sturz infolge eines Motorradstopps rannte Froome im Gelben Trikot zu Fuß den Berg hinauf, das Rad zerstört, die Situation surreal. Das Bild des joggenden Tour-Leaders ging um die Welt – und zeigte einmal mehr: Am Ventoux herrschen eigene Regeln.
Ein Berg, der immer wieder Geschichte schreibt
Der Ventoux kennt keine Routine. Er schenkt Ikonen wie Merckx und Froome ihre größten Momente – und zwingt sie im selben Atemzug in die Knie. Er ist Bühne und Richter zugleich. Die Tour-Geschichte ist reich an dramatischen Schauplätzen, doch keiner erzeugt so viel Ehrfurcht wie dieser.
Ob Tadej Pogacar heute eine weitere Seite in dieses Kapitel schreiben kann? Der Slowene hat bereits viele Monumente bezwungen – doch ein Sieg am Mont Ventoux wäre mehr als ein sportlicher Erfolg. Es wäre ein Ritterschlag.