Der mit Kopfsteinpflaster gespickte Anstieg der Côte de Kimihurura, über dem das Kongresszentrum von Kigali thront, bot die perfekte Kulisse für den vielleicht eindrucksvollsten Sieg in Remco Evenepoels Karriere. Am Sonntag verteidigte der Belgier sein Regenbogentrikot im Zeitfahren der Elite-Männer bei den Weltmeisterschaften in Ruanda und triumphierte zum dritten Mal in Serie. Das Ergebnis war nicht nur sportlich überragend, sondern auch von symbolischer Wucht: Evenepoel holte
Tadej Pogacar auf der Straße ein, rächte damit den bitteren Tour-de-France-Einbruch vor zwei Monaten und überquerte die Ziellinie mit mehr als einer Minute Vorsprung. Mit erst 25 Jahren, drei WM-Titeln hintereinander und sieben Medaillen bei Weltmeisterschaften steigt Evenepoel in eine Sphäre auf, die bislang nur die größten Zeitfahrer der Geschichte erreicht haben.
Wie Evenepoel den Titel verteidigte
Die Strecke in Kigali stellte die Allround-Fähigkeiten der Fahrer auf die Probe. 40,6 Kilometer mit 680 Höhenmetern, darunter die Côte de Nyanza (2,5 km bei sechs Prozent), eine lange Gegensteigung und die brutale Côte de Péage, bevor das Kopfsteinpflaster von Kimihurura wartete. Eigentlich ein Terrain, das Pogacar hätte liegen müssen – doch es war Evenepoel, der glänzte.
Als Titelverteidiger startete er als Letzter und setzte sofort den Maßstab. Bei der ersten Zwischenzeit lag er bereits 40 Sekunden vorne, der entscheidende Moment kam jedoch auf den Schlusskilometern. Pogacar war 2:30 Minuten früher gestartet, doch Evenepoel zog auf dem Kopfsteinpflaster-Anstieg unter den Augen zahlreicher Zuschauer an ihm vorbei – ein historisches Bild. „Ich sah, dass ich Tadej einholte, also fuhr ich einfach so schnell ich konnte“, erklärte der Belgier. Mit 49:46 Minuten war er der einzige Fahrer unter 50 Minuten. Jay Vine sicherte sich Silber (+1:14), Ilan van Wilder Bronze. Pogacar blieb als Vierter eine Sekunde hinter dem Podium zurück – an seinem 27. Geburtstag.
Erlösung nach Peyragudes
Dass Evenepoel Pogacar auf der Straße kassierte, hatte eine tiefere Bedeutung. Zwei Monate zuvor war der Belgier im Bergzeitfahren nach Peyragudes kollabiert. Auf nur 10,9 Kilometern mit brutaler 13-Prozent-Rampe verlor er 2:39 Minuten auf Pogacar, wurde von Jonas Vingegaard überholt und stieg am nächsten Tag erschöpft aus der Tour aus.
In Kigali bot sich das Gegenteil: steile Rampen, wiederholte Anstiege – doch diesmal war es Evenepoel, der dominierte. Wo Peyragudes ihn entblößte, krönte ihn Kimihurura. Das Überholmanöver war mehr als sportlicher Triumph: Es war Erlösung und ein Beweis dafür, dass er die Lektionen aus dem Juli verarbeitet hatte.
Auf dem Weg zum Allzeit-Großen
Evenepoels Sieg unterstreicht seine Stellung in der Radsport-Geschichte. Laut Cycling Statistics hat er nun sieben WM-Medaillen, genauso viele wie Alejandro Valverde – allerdings in zwei Disziplinen: sechs im Zeitfahren, eine im Straßenrennen. Kein anderer Fahrer vereint eine solche Vielseitigkeit.
Er ist der erste Profi, der vier Jahre in Folge das Regenbogentrikot trägt: Straßen-WM 2022, Zeitfahr-Titel 2023, 2024 und 2025. Mit drei Goldmedaillen und sechs Podestplätzen im Zeitfahren ist er nur noch einen Sieg und eine Medaille von den Rekorden von Fabian Cancellara und Tony Martin entfernt (jeweils vier Siege, sieben Medaillen). Und das mit gerade einmal 25 Jahren.
Für Pogacar war Kigali eine bittere Niederlage. Als amtierender Straßen-Weltmeister und vierfacher Toursieger hatte er die letzten beiden Zeitfahrduelle gegen Evenepoel (2024 in Nizza, 2025 in Peyragudes) für sich entschieden – beide auf Bergstrecken. Kigali schien ihm erneut zu liegen, doch er endete als Vierter und musste die Demütigung ertragen, überholt zu werden.
Blick nach vorn
Mit seinen Erfolgen nähert sich Evenepoel den größten Namen der Disziplin. Cancellara, Martin, Indurain, Wiggins – sie alle prägten eine Ära. Doch keiner kombinierte so früh in der Karriere Titel im Zeitfahren und im Straßenrennen. Evenepoel ist nicht nur der nächste große Zeitfahrer, er ist schon jetzt ein kompletter Weltmeister.
Am kommenden Wochenende wartet das Straßenrennen. Mit 5.475 Höhenmetern gilt Pogacar als Favorit, doch Evenepoel wird als härtester Herausforderer gehandelt. Ein weiterer Podiumsplatz würde ihn zum alleinigen Rekordhalter bei WM-Medaillen machen. Sollte Pogacar schwächeln, könnte Evenepoel sogar seinen Titel von 2022 zurückerobern.
Darüber hinaus ist der Horizont weit offen: Die Rekorde von Cancellara und Martin sind greifbar, und jeder Sieg festigt Evenepoels Status. Vom Einbruch in Peyragudes bis zum Triumph in Kigali spannt sich nun die Erzählung eines Fahrers, der gefallen ist, um noch größer wieder aufzustehen – und der das Regenbogentrikot längst zu seinem Markenzeichen gemacht hat.