ANALYSE | Können Dygert, Vollering oder Reusser in Kigali Grace Browns Nachfolge im WM-Zeitfahren antreten?

Radsport
Freitag, 19 September 2025 um 15:00
MarlenReusser
Das Einzelzeitfahren der Elite-Frauen eröffnet die UCI Straßenweltmeisterschaft 2025 und markiert den Beginn der ersten Titelkämpfe auf afrikanischem Boden. Am Sonntag, den 21. September, wartet auf die Fahrerinnen in Kigali, Ruanda, ein Parcours, der alles andere als einfach ist. Auf dem Spiel steht das Regenbogentrikot, das nach dem Rücktritt der amtierenden Weltmeisterin auf neue Schultern übergehen wird.
Die Strecke über 31,2 Kilometer beginnt in der Höhe, verführt anfangs mit einem flachen Auftakt und bestraft anschließend mit Rampen, Kopfsteinpflaster und einem Schlussanstieg hinauf zum Kongresszentrum von Kigali. Es ist kein klassisches Bergzeitfahren und auch kein Dragstrip für reine Rouleure, sondern ein Kurs, auf dem kluge Fahrweise, präzise Dosierung und perfekte Technik den Unterschied machen.

Der Kurs

Die Fahrerinnen müssen auf 1.500 Metern Höhe ein Gleichgewicht zwischen Aggression und Zurückhaltung finden. Rund 500 Höhenmeter sind auf vier Anstiege verteilt, darunter ein Abschnitt über Kopfsteinpflaster. Der Start verläuft flach, doch nach 2,4 Kilometern folgt die Côte de Nyanza mit sechs Prozent Steigung. Bei Kilometer 10,5 wartet dort bereits die erste Zwischenzeit.
Es folgt eine Abfahrt, bevor derselbe Hügel von der sanfteren Seite zurückkehrt – 6,6 Kilometer bei 3,5 Prozent. Wer hier bereits zu viele Körner gelassen hat, läuft Gefahr, früh entscheidende Sekunden einzubüßen. Anders als bei den Männern entfällt ein weiterer Anstieg, stattdessen führt die Strecke direkt zur Côte de Kimihurura. Der 1,3 Kilometer lange Abschnitt mit knapp sechs Prozent Steigung über ruandisches Kopfsteinpflaster verlangt alles ab. Danach bleibt der Weg weiter ansteigend, bis die Fahrerinnen das Ziel am Kongresszentrum erreichen. Wer dort noch Reserven hat, kann kleine Vorsprünge in große Unterschiede verwandeln.

Rückblick auf Zürich

Vor einem Jahr erlebte der Frauenradsport ein Märchen. Grace Brown krönte ihre Karriere mit dem WM-Titel im Zeitfahren, nachdem sie wenige Wochen zuvor auch bei Olympia Gold gewonnen hatte. Sie schrieb damit ein historisches Double, das es zuvor nie gegeben hatte. „Ich fühle mich einfach sehr, sehr glücklich, meine Karriere so zu beenden“, sagte sie damals – der Schlusssatz einer Fahrerin, die jahrelang nach Perfektion gesucht hatte und sie in ihrer letzten Saison fand.
Mit ihrem Rücktritt ist Kigali kein Schauplatz der Titelverteidigung, sondern ein Casting für eine neue Königin im Kampf gegen die Uhr.

Marlen Reusser

Marlen Reusser zählt ohne Frage zu den Topfavoritinnen. Die Schweizerin ist erneut nationale Meisterin und seit Jahren die konstanteste Fahrerin dieser Disziplin, auch wenn ihr bislang der große Triumph fehlt. Zwei Silber- und eine Bronzemedaille bei Weltmeisterschaften, dazu mehrere EM-Titel – ihr Palmarès ist beeindruckend. Sie bringt den Motor mit, der normalerweise zu einem Regenbogentrikot führt.

Anna Henderson

Anna Henderson steht nach Olympia-Silber in Paris endgültig im Rampenlicht. Damals bezwang sie Chloé Dygert um weniger als eine Sekunde auf einem anspruchsvollen Kurs. Genau dieses Profil – Rhythmuswechsel, technische Passagen, Tempohärte – erinnert an das, was Kigali von den Fahrerinnen fordert.
2025 unterstrich die Britin ihre Entwicklung. Ein Etappensieg beim Giro d’Italia, Platz zwei bei den britischen Meisterschaften im Zeitfahren und Rang acht beim Amstel Gold Race sprechen für Konstanz auf höchstem Niveau. Henderson hat das Momentum, um am Sonntag eine der Medaillenkandidatinnen zu sein.

Demi Vollering

Demi Vollering ist eher für ihre Kletterkünste und ihre Erfolge im Gesamtklassement bekannt. Doch Rotterdam 2024 bewies, dass sie auch im Kampf gegen die Uhr zu Großem fähig ist. Vor heimischem Publikum gewann sie damals das Zeitfahren der Tour de France Femmes und holte das Gelbe Trikot.
Die Strecke in Kigali könnte ihr liegen. Höhe, unrhythmische Anstiege und ein langer Schlussanstieg begünstigen eine Fahrerin mit Kletterqualitäten. Für Vollering geht es um zwei Dinge: um ihr erstes Regenbogentrikot und darum, das Aushängeschild einer SDWorx-Mannschaft zu sein, die sich 2025 mit Anna van der Breggen neu aufgestellt hat. Wer die Kontrollpunkte in Schlagdistanz erreicht, kann im Kopfsteinpflaster-Finale alles riskieren.

Chloé Dygert

Chloé Dygert kennt Höhen und Tiefen wie kaum eine andere. Weltmeisterin 2019 und 2023, Olympiasiegerin auf der Bahn und Bronzemedaillengewinnerin im Straßenrennen von Paris – ihre Bilanz ist beeindruckend. Zugleich prägten schwere Stürze und lange Verletzungspausen ihre Karriere.
Kigali ist kein klassischer Dygert-Kurs. Die Höhenmeter und das Kopfsteinpflaster sind nicht ihr Terrain. Doch sie bleibt eine Ausnahmeathletin, die im Zeitfahren Felder deklassieren kann, wenn alles zusammenpasst. Wer sie abschreibt, macht einen Fehler.

Anna van der Breggen

Ein Name elektrisiert das Feld besonders: Anna van der Breggen. Die Niederländerin hatte Ende 2021 ihre Karriere beendet, wechselte ins Teamcar – und startete 2025 ihr Comeback. Mit Erfolgen wie Platz drei bei der Vuelta, Rang sechs beim Giro und einem Etappensieg meldete sie sich eindrucksvoll zurück.
Van der Breggen ist nicht mehr so dominant wie früher, doch ihre Erfahrung ist einzigartig. Wenn sie am letzten Kontrollpunkt noch in Reichweite liegt, kann sie im Schlussanstieg Kräfte freisetzen, die andere nicht mehr haben.

Offenes Rennen ohne klare Favoritin

Die Startliste in Kigali lädt nicht zu Etiketten ein. Grace Browns Rücktritt hat ein Vakuum hinterlassen, das nun mehrere Fahrerinnen füllen wollen. Reusser ist die Konstante, die seit Jahren auf diesen Tag hinarbeitet. Henderson bringt Tempo und Form mit, um den nächsten Schritt zu machen. Vollering besitzt die richtige Mischung aus Klettervermögen und Ausdauer. Dygert bleibt trotz aller Zweifel ein Faktor. Und Van der Breggen könnte mit ihrer Klasse das Unmögliche möglich machen.
Am Sonntag wird eine neue Königin des Zeitfahrens gekrönt – auf einem Kurs, der Köpfe wie Beine prüft.
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