ANALYSE | Fünf Erkenntnisse aus der ersten Giro-Woche 2025 – Was uns die Etappen 1 bis 9 gezeigt haben

Radsport
Montag, 19 Mai 2025 um 15:00
van aert
Nach neun wilden, emotional aufgeladenen und stellenweise chaotischen Etappen ist der zweite Ruhetag des Giro d’Italia 2025 mehr als willkommen. Nach dem epischen Schotterduell in der Toskana am Sonntag heißt es nun: durchatmen – für Fahrer und Fans gleichermaßen.
Die erste Woche dieser Rundfahrt hatte bereits alles zu bieten, was eine Grand Tour ausmacht: spektakuläre Solosiege, schwere Stürze, überraschende Trikotwechsel und bittere Rückschläge. Die Etappen brachten nicht nur sportliche Highlights, sondern auch viele Fragezeichen und neue Heldengeschichten.
Hier sind fünf zentrale Lektionen, die wir bislang aus der ersten Grand Tour des Jahres 2025 mitnehmen:

1. Egan Bernal ist wieder ganz der Alte... fast

Egan Bernals Auftritt auf der Schotteretappe nach Siena weckte Erinnerungen an glorreiche Zeiten. Auf ähnlichem Terrain hatte der Kolumbianer 2021 eine der beeindruckendsten Etappenleistungen seiner Karriere gezeigt, das Rosa Trikot erobert und den Grundstein für seinen Giro-Gesamtsieg gelegt. Am Sonntag schien er die Uhr zurückzudrehen – angriffslustig, mutig, konkurrenzfähig.
Zwar konnte er dem späteren Etappensieger Wout van Aert und dem neuen Gesamtführenden Isaac Del Toro nicht bis ins Finale folgen, doch Bernal hielt lange mit, griff selbst an und wurde erst sechs Kilometer vor dem Ziel von der Gruppe der Verfolger eingeholt. Es war ein deutliches Signal: Der 28-Jährige nähert sich seiner Bestform – so nah wie seit seinem schweren Trainingsunfall 2022 nicht mehr, jenem Moment, der seine Karriere beinahe beendet hätte.
Bernals Präsenz unter den Besten zeigt nicht nur seine persönliche Stärke, sondern bereichert auch das Rennen. Der Giro hat seinen Champion zurück – und der Radsport einen Hoffnungsträger, der nie aufgegeben hat.
Bernal nähert sich seiner Bestform
Bernal nähert sich seiner Bestform
Er ist vielleicht noch nicht ganz auf dem Zenit seiner Leistungsfähigkeit – aber Egan Bernal ist nah dran. Der Kolumbianer zeigt beim Giro d’Italia 2025 eindrucksvoll, dass er sich nach all den Rückschlägen zurückgekämpft hat. Zwei Rennwochen bleiben, und mit seiner Konstanz, Kletterstärke und Rennintelligenz ist ein Podiumsplatz in Reichweite – vielleicht sogar mehr. Was zählt: Bernal ist wieder ganz vorn dabei. Und das ist nicht nur ein Gewinn für ihn und sein Team – sondern für den gesamten Radsport.

2. Primoz Roglic hat wieder einmal alle Hände voll zu tun

Eine weitere Schotteretappe. Eine weitere Grand Tour. Und erneut ein bitterer Rückschlag für Primoz Roglic.
Die 9. Etappe des Giro d’Italia 2025 fügte sich schmerzhaft in eine Reihe unglücklicher Momente in Roglics Grand-Tour-Vita ein: das Kopfsteinpflaster-Fiasko bei der Tour de France 2022, der Schotterkollaps im Vorjahr – und nun die weißen Straßen der Toskana. Diesmal war es ein Sturz eines INEOS-Fahrers 51 Kilometer vor dem Ziel, der eine Kettenreaktion auslöste. Roglic ging zu Boden, erlitt kurz darauf einen Reifenschaden – und während das Rennen explodierte, begann für ihn die mühsame Verfolgungsjagd.
Am Ende verlor der Leader von Red Bull – BORA – hansgrohe fast zweieinhalb Minuten auf Etappensieger Wout van Aert und über eine Minute auf Juan Ayuso. In der Gesamtwertung fiel er deutlich zurück – ein herber Rückschlag nach einem soliden Start in den Giro.
Und doch: Wer Primoz Roglic kennt, weiß, dass er in solchen Momenten am gefährlichsten ist. Bereits auf der 2. Etappe hatte er im Zeitfahren nur eine Sekunde auf Josh Tarling eingebüßt – ein Zeichen, dass seine Form stimmt. Mit dem nächsten Zeitfahren am Dienstag wartet ein Terrain, das ihm liegt.
Und wir haben es schon erlebt: Bei der Vuelta 2024 verlor Roglic früh über fünf Minuten auf Ben O’Connor – und gewann am Ende dennoch die Gesamtwertung. Er ist kein Fahrer, der sich mit einem Rückschlag zufrieden gibt.
Primoz Roglic ist ein Grand-Tour-Meister. Der erste Teil des Giro ist vorbei. Jetzt beginnt die wahre Prüfung – und womöglich das Comeback.

3. Wout van Aert ist noch nicht fertig

Die Schotteretappe nach Siena markierte einen Wendepunkt in der bislang schwierigen Saison von Wout van Aert. Nach einem enttäuschenden Start ins Jahr 2025 – ohne Sieg, unter wachsendem medialem Druck in Belgien und im Schatten alter Rivalen – setzte der Belgier auf der 9. Etappe des Giro d’Italia ein kraftvolles Zeichen: Er gewann nicht nur sein erstes Rennen des Jahres, sondern auch erstmals eine Giro-Etappe und feierte zugleich den 50. Sieg seiner Karriere.
Der Triumph auf den ikonischen weißen Straßen der Toskana war mehr als nur ein sportlicher Erfolg. Es war eine Rückeroberung seiner Identität als Rennfahrer – auf dem Terrain, das schon bei der Strade Bianche 2018 seinen Durchbruch bedeutete und das er 2020 als Sieger verließ. Mit seiner Attacke an der Via Santa Caterina und einem souveränen Finish in Siena ließ er keinen Zweifel: Van Aert ist zurück – und wie.
Nach seinem schweren Sturz bei der Vuelta a España 2024 hatte Van Aert Mühe, wieder in Tritt zu kommen. Die Frühjahrsklassiker liefen solide, aber nicht dominant – Mathieu van der Poel war einmal mehr die prägende Figur. Auch im Giro stand Van Aert lange im Schatten von Mads Pedersen, der sich mit mehreren Etappensiegen früh ins Rampenlicht gefahren hatte. Van Aert hingegen war nur zum Auftakt auffällig.
Doch mit seinem Sieg in Siena hat sich das Blatt gewendet. Van Aert hat nicht nur seine Kritiker zum Schweigen gebracht, sondern auch sich selbst bewiesen, dass er auf höchstem Niveau noch immer bestehen kann. Mit dem wiedergewonnenen Selbstvertrauen sind weitere Erfolge bei diesem Giro keineswegs ausgeschlossen – und vielleicht sogar ein neuer Anlauf auf die Tour de France im Juli.

4. Mads Pedersen ist in der Form seines Lebens

Drei Etappensiege in den ersten fünf Tagen, dazu Zeit im Maglia Rosa und eine beeindruckende Präsenz auf jedem Terrain – Mads Pedersen liefert beim Giro d’Italia 2025 eine Machtdemonstration ab. Selbst auf der gefürchteten Schotteretappe zeigte der Däne am Sonntag keine Schwächen und bewies, dass er weit mehr ist als ein reiner Sprinter.
Was Pedersen in diesen ersten Tagen auf die Straße bringt, ist nicht nur beeindruckend – es ist das Zeichen eines Fahrers auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Der ehemalige Weltmeister kontrolliert das Renngeschehen, liest jede Situation richtig und strahlt eine Souveränität aus, die ihn zu einem der prägenden Gesichter dieser Rundfahrt macht.
Pedersen war der Star der ersten Woche
Pedersen war der Star der ersten Woche
Der ehemalige Weltmeister hat in diesem Frühjahr zwar kein Monument gewonnen, doch seine Konstanz und rohe Durchsetzungskraft haben ihn endgültig in den Kreis der weltbesten Fahrer katapultiert. Mads Pedersen war lange Zeit knapp außerhalb der großen Fünf – Van Aert, Van der Poel, Pogacar, Vingegaard und Evenepoel – positioniert. Doch das gehört der Vergangenheit an.
Seine Teilnahme am Giro d’Italia 2025 ist Teil einer bewussten Teamstrategie bei Lidl-Trek: Jonathan Milan soll im Juli die Tour de France anführen, während Pedersen in Italien glänzt – und das tut er. Mit einem Etappensieg im Gepäck und weiteren Chancen auf die ganz großen Tage macht der Däne diesen Giro zu seinem persönlichen Statement.
Zwei Wochen bleiben noch – und es wäre keine Überraschung, wenn Mads Pedersen noch weitere Male zuschlägt.

5. UAE Team Emirates - XRG hat ohne Pogacar ein Führungsproblem

Wenn Tadej Pogacar am Start ist, ist die Rollenverteilung im UAE Team Emirates – XRG eindeutig. Doch in seiner Abwesenheit wird die beeindruckende Tiefe des Teams beim Giro d’Italia 2025 zum zweischneidigen Schwert – sie kann zum größten Trumpf oder zur taktischen Herausforderung werden.
Zu Beginn der Rundfahrt sah alles nach einem Führungsduo aus: Juan Ayuso und Adam Yates sollten die Gesamtwertung unter sich ausmachen. Doch nach neun Etappen hat sich mit Isaac Del Toro ein neues Gesicht in den Vordergrund gedrängt – und wie. Der 21-jährige Mexikaner fuhr in Siena als Zweiter über die Ziellinie und schlüpfte in das Maglia Rosa. Sein Vorsprung auf Ayuso beträgt inzwischen mehr als eine Minute.
Dazu kommt: Mit Brandon McNulty (Platz 8) und Adam Yates (Platz 9) liegen zwei weitere UAE-Fahrer nur rund zwei Minuten hinter Del Toro – das Team stellt damit vier der Top 10.
Doch genau darin liegt das Risiko: Ohne Pogacars übergeordnete Führungsrolle besteht die Gefahr, dass das Team in taktische Reibung gerät. Ayuso, einst als künftiger Grand-Tour-Sieger gefeiert, musste am Schotteranstieg von Siena Federn lassen. Del Toro hingegen, als Generationstalent verpflichtet, trägt jetzt das Rosa Trikot – mit all seinen Erwartungen und inneren Spannungen.
Die kommenden Etappen werden zeigen, ob UAE Emirates das Rennen kontrollieren und ihre Karten clever ausspielen kann – oder ob interne Ambitionen und Unsicherheiten die Hierarchie sprengen. Dominanz oder Dilemma? Die Antwort bringt die zweite Woche.
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