„Trainingslager fühlten sich an wie ein Wettbewerb, wer am meisten abnehmen kann" - Profi spricht über Essstörungen im Männerpeloton

Radsport
Freitag, 29 August 2025 um 10:00
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Die Ernährung ist eine der wichtigsten Säulen im Radsport. Sie entscheidet über Leistung, Regeneration und langfristige Gesundheit – egal, ob man Tour de France-Profi oder ambitionierter Hobbyfahrer ist. Wer den Körper falsch mit Energie versorgt, spürt die Folgen sofort auf dem Rad. Und doch zeigt sich gerade in der Weltelite, dass die Grenze zwischen optimaler Nahrungsaufnahme und gefährlicher Besessenheit oft verschwimmt.
Ein anonymer Radprofi hat in einem Brief an Domestique offenbart, wie eine „ungesunde Kultur“ rund um Essen und Gewicht fast seine Karriere zerstört hätte. Seine Worte zeichnen ein bedrückendes Bild eines Systems, das Disziplin mit Selbstzerstörung verwechselt.

„Als ob Gewicht verlieren ein Wettbewerb wäre“

„Ich bin mit dem Radsport im Blut aufgewachsen“, beginnt der Fahrer seine Schilderung. „Meine Familie schaute jeden Sommer gemeinsam die Tour de France. Als ich sieben Jahre alt war, stand ich am Straßenrand, sah das Peloton vorbeifliegen – und wusste sofort, dass ich Profiradfahrer werden wollte.“
Mit dem Traum wuchs auch der Druck. Schon in den Nachwuchskategorien lernte er, dass im Männerpeloton Leichtigkeit über alles geht. „Viele Fahrer waren extrem dünn, und ich akzeptierte früh, dass das Teil des Jobs ist. In der WorldTour wurde dieses Ideal noch stärker.“
Der Profi begann, jedes Gramm zu kontrollieren. Mahlzeiten wurden gewogen, jede Kalorie gezählt. „Ein Burger war kein Essen, sondern ein Versagen. Nur in der Nebensaison konnte ich mir so etwas erlauben.“ Schritt für Schritt verwandelte sich sein Verhältnis zu Nahrung in eine Obsession. „Ich konnte nicht mehr ohne meine Waage leben“, gesteht er.
Mit den Jahren bemerkte er, wie toxisch das Umfeld war. „In den Höhenlagern fühlte es sich wie ein Wettbewerb an: Wer konnte am meisten Gewicht verlieren? Teamkollegen machten Witze über Körperfett, Betreuer verstärkten den Druck. Was die Ernährungsberater als Hingabe bezeichneten, wurde zur Besessenheit. Abends essen zu gehen war unmöglich, weil ich Angst hatte, meine Fortschritte zu ruinieren.“

Vom Traum zur körperlichen und mentalen Krise

Doch die strikte „Radfahrer-Diät“ forderte ihren Preis. Statt stärker zu werden, brach sein Körper zusammen. Krankheiten häuften sich, Verletzungen verhinderten ganze Rennblöcke. „Ich war so lange unterversorgt, dass ich nicht mehr richtig trainieren konnte. Mein Körper fühlte sich kaputt an. Ich war ständig krank, ständig verletzt – und mental am Ende.“
Ein Problem, das bei Männern noch schwerer zu erkennen ist als bei Frauen. „Bei Frauen fällt das Ausbleiben der Periode sofort auf. Bei Männern fehlen solche Anzeichen. Deshalb wird es ignoriert oder abgetan.“
Irgendwann musste er die Reißleine ziehen. Über Jahre hinweg arbeitete er daran, wieder Vertrauen in seinen Körper zu entwickeln. „Ich musste lernen, zuzunehmen, obwohl das in diesem Umfeld nicht gefeiert wird. Ich musste lernen, Kommentare auszublenden und meinen eigenen Weg zu gehen.“
Der Weg war hart, doch am Ende erfolgreich. Zum ersten Mal in seiner Karriere konnte er eine Saison ohne krankheits- oder verletzungsbedingte Pausen durchfahren. „Richtiges Tanken hat mich nicht schwächer gemacht, sondern widerstandsfähiger. Ich war zuverlässiger, mental stabiler und glücklicher – auf und neben dem Rad.“

„Wir müssen über Essstörungen im Männerpeloton reden“

Heute fordert der Profi, dass das Thema Essstörungen im Männer-Radsport nicht länger tabuisiert wird. Viel zu lange habe man problematische Essgewohnheiten als „Teil des Sports“ akzeptiert. Doch ohne einen gesünderen, nachhaltigeren Ansatz könnte der Radsport an seiner eigenen Kultur zerbrechen.
„Wir müssen offener über die Risiken sprechen. Schlanksein darf nicht das höchste Gut im Peloton sein. Wer seinen Körper langfristig zerstört, wird niemals das Maximum aus ihm herausholen.“
Seine Geschichte ist ein Mahnmal für einen Sport, der in der Öffentlichkeit oft nur über Wattzahlen, Siege und Bergankünfte definiert wird – und viel zu selten über die stillen Kämpfe im Hintergrund.
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