Wenn der letzte italienische Männer-Weltmeister über den Zustand des modernen Radsports spricht, hört man aufmerksam zu – und Alessandro Ballan hält die Erzählung von
einem Mann, der „Rennen tötet“, für deutlich überzogen. Ihm fehlt es dem Sport keineswegs an Drama. Er argumentiert sogar das Gegenteil.
„Wenn diese Fahrer zusammen am Start sind“, sagte er, „ist ein packendes Finale fast garantiert, selbst wenn Pogacar in überlegener Manier gewinnt.“
Dieser Satz bringt das Dilemma der Pogacar-Debatte auf den Punkt. Nivelliert die Überlegenheit des Slowenen die Rennen oder steigert sie deren Spektakel? Für Ballan ist die Antwort klar: Der Radsport bleibt voller Sitzkanten-Momente – man muss das Niveau würdigen, auf dem diese Stars unterwegs sind.
Ballan: Pogacar kann ein Rennen nur „töten“, weil niemand folgen kann
Ballan bestreitet nicht, dass Pogacars schiere Power die Spannung dämpfen kann, wenn er unbehelligt fährt. Für ihn ist das jedoch Ausdruck außergewöhnlichen Talents, kein Mangel des Sports.
Er verwies darauf, wie Pogacars Antritte den Rennrhythmus verändern: „Seine Fahrweise, schlicht stärker als die anderen, prägt das Rennen und kann für die Verfolger weniger Spannung erzeugen.“
Entscheidend sei jedoch die Abwesenheit von Rivalen, die folgen können – etwas, das sich schlagartig ändert, wenn Akteure wie Van der Poel oder Vingegaard dabei sind. Und wenn sie dabei sind, so Ballan, erreicht der Radsport seinen Höhepunkt: „Es ist fantastisch, wenn Pogacar und Van der Poel oder Vingegaard aufeinandertreffen. Dann bekommst du immer ein spektakuläres Finale.“
Statt Dominanz zu beklagen, beschreibt Ballan diese Ära als von Ausnahmekönnern geprägt – Fahrer, die „in dem Moment, in dem sie attackieren, den Unterschied machen“.
Und was ist mit Remco Evenepoel?
Ballan ging auch auf die unvermeidliche Frage nach
Remco Evenepoel ein und warum der Belgier nicht in seiner Aufzählung der großen Namen auftauchte. Das habe nichts mit persönlicher Vorliebe zu tun, stellte er klar.
„Evenepoel ist ohne Zweifel ein exzellenter Fahrer. Er ist für meinen Geschmack etwas zu forsch und wird schnell nervös, aber er ist sehr, sehr stark – vor allem im Zeitfahren – und er wird weiter Großes erreichen.“
Roubaix, Sanremo und die Momente, die 2025 prägten
Nach einem einzigen Bild gefragt, das die Saison 2025 repräsentiert, zögerte Ballan nicht. „Es mag offensichtlich klingen, aber ich würde ein Bild von Pogacar wählen, denn er hat praktisch alles gewonnen.“
Bei den einzelnen Rennen hob er zwei hervor: Milano–Sanremo und das „unglaubliche Duell“ zwischen Pogacar und Van der Poel auf dem Pflaster von Roubaix – ein Showdown, den er als „Radsport auf höchstem Niveau“ beschrieb.
Diese Duelle seien der Beweis, dass der Sport weit davon entfernt ist, vorhersehbar zu sein.
Italienischer Radsport weiterhin im Aufbau – doch Ballan sieht Hoffnung
So positiv er das internationale Geschehen bewertet, so offen sprach Ballan über Italiens anhaltende Schwierigkeiten. Der nationale Kalender erhole sich dank Initiativen wie der Coppa Italia delle Regioni, doch das Land warte weiterhin auf die nächste Generation an Champions. „Der italienische Radsport befindet sich noch in einer schwierigen Phase, aber unseren Rennen wieder Wert zu geben, hilft. Wir hoffen, bald wieder große italienische Champions zu haben.“
Ballan bleibt dem Radsport eng verbunden – als Botschafter, Veranstalter und sportlicher Leiter bei U.C. Giorgione, wo inzwischen seine Tochter fährt. Der Radsport, sagte er, habe ihn nicht nur als Athleten, sondern als Menschen geprägt. „Das Rad hat mir so viel gegeben, und jetzt ist es an der Zeit, etwas zurückzugeben.“