Tim Merlier feierte am Mittwoch seinen 16. Saisonsieg – und dennoch klang in seiner Stimme kein Stolz, sondern Sorge. Der belgische Sprinter vom Team Soudal-Quick-Step gewann nach einem chaotischen Finale die erste Etappe der Holland-Rundfahrt in Dordrecht knapp vor
Olav Kooij. Doch Euphorie kam bei ihm nicht auf. Zu präsent war das Gefühl, einem Sturz nur knapp entgangen zu sein. „Um ehrlich zu sein, es war eine besonders gefährliche Etappe mit vielen Hindernissen“, sagte Merlier direkt nach dem Ziel. „Ich bin froh über den Sieg, aber noch froher, dass ich heil durchgekommen bin.“
Mit diesen Worten traf der 31-Jährige den Nerv des gesamten Pelotons. Die Rundfahrt hatte kaum begonnen, da wurde aus dem geplanten Sprintfestival ein Überlebenskampf auf schmalen Straßen, gesäumt von Verkehrsinseln und Seitenwind. Nerven, Anspannung und die Angst vor Fehlern bestimmten das Rennen.
Nervöse Straßen und müde Beine
Vier Fahrer eröffneten das Spektakel früh. Drei Niederländer wagten die Flucht in heimischem Terrain, begleitet vom Spanier Javier Serrano (Team Polti-VisitMalta). Doch ihr Angriff blieb nur eine Randnotiz: Bereits nach 30 Kilometern war ihr Vorsprung auf 40 Sekunden geschrumpft. Das Feld kontrollierte Tempo und Rhythmus – im Windschatten den niederländischen Top-Sprinter Fabio Jakobsen, der sich aufgrund seiner Führungsarbeit später aus dem Endspurt heraushielt.
22 Kilometer vor der Ziellinie war die Fluchtgeschichte beendet. Kurze Attacken flammten auf, eine letzte bei Kilometer 14 rund um den Red Bull-Zwischensprint, bevor die Sprinterzüge das Kommando endgültig übernahmen. Was danach kam, war reiner Positionskampf. Kooij eröffnete den Sprint früh, beflügelt vom Jubel der niederländischen Fans. Merlier wartete geduldig, fand die perfekte Lücke und schoss vorbei. „Ich bin die ganze Zeit am Limit gefahren“, gab er später zu. „Ich glaube, ich bin im Moment ein bisschen außer Form. Der Sprint hat mir alles abverlangt – ich war völlig leer. Aber ein Sieg ist ein Sieg. Ich glaube, ich habe heute mit Timing gewonnen, nicht mit den Beinen.“
Der Belgier keuchte nach dem Zielbogen, schüttelte den Kopf, lächelte kurz, beinahe ungläubig. Sein Erfolg war präzise erarbeitet, aber teuer erkauft.
Ein Sieger mit Sicherheitswarnung
Das Zielfoto zeigte die Dramatik des Moments: Merlier presst sich auf den letzten Zentimetern vor Kooij, Tobias Lund Andresen erobert Rang drei. Für Soudal-Quick-Step war es der 50. Erfolg der Saison – ein Meilenstein, den Merlier selbst relativierte. „Es war gefährlich, wirklich gefährlich“, sagte er erneut. „Diese Etappe hatte einfach zu viele Hindernisse, die Situation war grenzwertig. Ich bin erleichtert, dass ich unversehrt im Ziel stehe.“
Selten spricht ein Etappensieger so deutlich über Sicherheitsrisiken. Doch Merlier wird in seiner Einschätzung längst nicht mehr allein gelassen. Fahrer diskutieren zunehmend über Strecken, deren Risiko kaum kalkulierbar ist. In einem Sport, in dem Sekunden und Zentimeter über Karrieren entscheiden, kann Unberechenbarkeit zur größten Bedrohung werden – und aus einem Triumph ein mahnendes Zeichen für den gesamten Radsport.