Die
Tour de France hat uns unvergessliche Momente beschert. Von Pogačars Dominanz in den Bergen bis hin zu Van Aerts beeindruckendem Solosieg in Paris – das Rennen war voller historischer Leistungen, die für immer in den Geschichtsbüchern bleiben werden.
Doch nach drei Wochen intensiven Rennens, legendären Bergetappen und überraschenden Wendungen ist es nun an der Zeit, die andere Seite der Medaille zu betrachten. Während einige Fahrer die Erwartungen übertroffen und dieser Tour de France ihren Stempel aufgedrückt haben, blieben andere hinter den Erwartungen zurück – sei es durch Pech, Formschwäche oder ungenutztes Potenzial.
In unserem heutigen Beitrag richten wir den Blick auf die Enttäuschungen des Rennens:
Die großen Namen, die nicht liefern konnten, die Teams, die kaum Akzente setzen konnten, und die Momente, in denen einfach nichts wie geplant lief. Nicht als Kritik, sondern als Versuch, die Realität und Herausforderungen zu verstehen, die mit Höchstleistungen bei der größten Radsportveranstaltung der Welt einhergehen.
Wie immer bei unseren Diskussionsbeiträgen haben wir einige unserer Autor*innen gebeten, ihre Meinungen zu diesem Thema zu teilen.
Carlos Silva (CiclismoAtual)
Ich habe zwar nicht viele Enttäuschungen, aber ein paar Dinge will ich doch ansprechen, die meiner Meinung nach relevant sind.
Fangen wir mit Red Bull – BORA – hansgrohe an. Was bitte geht im Kopf eines sportlichen Leiters vor, wenn er Primož Roglič an die Spitze schickt, während es darum geht, Platz drei in der Gesamtwertung zu verteidigen? Florian Lipowitz hat keinen Meter Unterstützung vom Slowenen bekommen – und das liegt nicht nur an Roglič’ Ego. Es ist schlicht fehlender Mut, klar zu sagen: Wir stehen hinter Lipowitz, wir müssen seinen Podiumsplatz verteidigen.
Man kann erzählen, Roglič sei eine „auszuspielende Karte“. Das ist Quatsch. Roglič hat nicht mehr die Beine, um mit den neuen Jungs mitzuhalten.
Zweiter Kritikpunkt: Tudor Pro Cycling Team. Die UCI hat die Anzahl der Fahrer reduziert – unter anderem, um Stürze zu vermeiden – und gleichzeitig die Anzahl der Teams erhöht, die bei Grand Tours starten dürfen. Alles nur wegen Namen wie Tom Pidcock und Julian Alaphilippe. Tudor war also gesetzt für die Tour de France. Aber wofür eigentlich? Was haben sie geleistet? Gar nichts. Gelbe Karte an die UCI.
Dritter Punkt: die französischen Teams. Es ist kein Zufall, dass immer mehr französische Mannschaften wirtschaftlich am Abgrund stehen – weil die Sponsoren abspringen. Der französische Radsport steckt in einer Sackgasse und braucht dringend ein Umdenken.
Enric Mas. Warum? Weil bei Movistar offenbar niemand den Mumm hat, ihm ins Gesicht zu sagen: „Enric, du bist ein netter Kerl, aber es ist Zeit, weiterzuziehen.“
Zum Schluss: Jonas Vingegaard. Bin ich verrückt? Nein. Ein Radprofi, der ein ganzes Jahr lang nur auf dieses eine Rennen hinarbeitet – und es dann nicht gewinnt? Was ist das? Ein Verlierer. Ein Fahrer, der Millionen verdient, aber keine einzige Etappe gewinnt – und dessen Team nicht angreift, weil er nicht will, dass sein Rivale eine weitere Etappe gewinnt?
Das ist absurd. Lächerlich. Da muss man sagen: Sorry, dänischer Freund, aber du verdienst dein Gehalt nicht.
Und dann seine Frau – dass sie sich in der ersten Woche öffentlich in Teamangelegenheiten einmischt, hat mir überhaupt nicht gefallen. Meiner Meinung nach – und versuch mich ruhig vom Gegenteil zu überzeugen – ging das nicht einfach so an Visma vorbei. Mehr noch: Das war abgestimmt, zwischen Team, Jonas und Trine.
Da kann man nur sagen: Werd endlich erwachsen, Junge. Wir haben diesen Film alle schon gesehen – nur war der Regisseur diesmal besonders schwach.
Rúben Silva (CyclingUpToDate)
Einige Sprinter haben wirklich enttäuscht – aus unterschiedlichen Gründen. Man könnte argumentieren, dass Jordi Meeus stark unter seinem frühen Sturz gelitten hat, doch insgesamt war er während des gesamten Rennens abwesend, was besonders enttäuschend ist, da Red Bull den Großteil ihrer Aufmerksamkeit auf seinen Lead-out gelegt hatte. Dylan Groenewegen verfügt über einen sehr starken Lead-out, konnte diesen aber zu keiner Gelegenheit richtig nutzen, während Arnaud Démare und Pascal Ackermann schlicht nicht präsent waren und eher als Helfer denn als Sprinter auf sich aufmerksam machten.
Im Thema Krankheit muss man auch Thibau Nys nennen, der zwar eine Freikarte hatte, aber nie wirklich für Etappensiege in Frage kam. Und Magnus Cort Nielsen, der mehrere Chancen auf Etappensiege gehabt hätte, aber stattdessen drei Wochen lang abwesend blieb, während Jonas Abrahamsen und Tobias Johannessen glänzten. Lennert van Eetvelt schied zwar auf der 15. Etappe aus, war bis dahin aber auch aufgrund mangelnder Form kaum zu sehen.
Im Bereich der Helfer war Pavel Sivakov eine große Enttäuschung. Er ist ein Fahrer von sehr hohem Niveau, schafft es aber selten, seine beste Form abzurufen. Dies war bei dieser Tour nicht anders, obwohl UAE ihn dringend brauchte. Er zeigte nicht die Leistung, die man von ihm erwartet hatte. Insgesamt kann man auch sagen, dass Marc Hirschi und das gesamte Cofidis-Team während der Tour de France kaum sichtbar waren – was als Gesamtpaket eine große Enttäuschung darstellte.
Víctor LF (CiclismoAlDía)
Als Spanier war ich persönlich von Enric Mas und Carlos Rodríguez aus unterschiedlichen Gründen sehr enttäuscht. Natürlich ist es schade, sie aussteigen zu sehen, aber daran tragen sie keine Schuld. Verantwortlich sind sie eher für die Leistungen, die sie zeigten, als sie im Rennen waren.
Enric startete sehr gut, brach aber bei den ersten Schwierigkeiten komplett ein. Er versuchte eine Etappe zu gewinnen, obwohl die Gesamtwertung längst außer Reichweite war. Er war der beste Kletterer am Tag des Mont Ventoux – und konnte es trotzdem nicht schaffen. Er sagte, er sei hier, um aufs Podium zu fahren, kämpfte aber letztlich nur noch darum, in den Top 20 zu bleiben.
Carlos begann sehr schlecht und brauchte lange, um ins Rennen zu finden. Die zweite Woche war dann sehr gut, mit Ausreißversuchen und einem Platz in den Top 10. Aber vor zwei Jahren belegte er noch einen Platz unter den besten fünf der Gesamtwertung. Man weiß natürlich nicht, wie es ohne den Sturz gelaufen wäre, aber ich hatte von seiner ersten Tour-Hälfte mehr erwartet.
Auf einer allgemeineren Ebene passierte Ähnliches bei Remco Evenepoel, dessen Leistung aber durch seine körperlichen Probleme völlig zu rechtfertigen ist. Er gewann sogar eine Etappe. Und von Primož Roglič kann man nicht sagen, dass er enttäuscht hat – er hat gekämpft, aber ich hatte erwartet, ihn um das Podium kämpfen zu sehen.
Félix Serna (CyclingUpToDate)
Während ich mich normalerweise lieber auf die positiven Überraschungen des Rennens konzentriere, ist es auch wichtig, die Teams oder Fahrer zu nennen, die die Erwartungen nicht erfüllt haben. Ich weiß, dass das ein kontroverses Thema sein kann.
Ich möchte zunächst klarstellen, dass für mich ein enttäuschender Fahrer nicht jemand ist, der aufgrund von Verletzungen, Krankheiten oder Stürzen nicht auf hohem Niveau performt hat. Das gehört zum Sport dazu (und manchmal sind Stürze vermeidbar), aber ich konzentriere mich hier ausschließlich auf Fahrer, deren Form weit unter den Erwartungen lag. Die Grenze zwischen Pech und Leistungsdefizit ist manchmal jedoch sehr schmal, und genau hier wird die
Diskussion komplexer.
Mehrere Fahrer gingen mit realistischen Ambitionen an den Start, in die Top 10 der Gesamtwertung zu kommen. Namen wie João Almeida, Remco Evenepoel, Enric Mas, Carlos Rodríguez und Matteo Jorgenson. Einige, wie Almeida, stürzten und hatten keine wirkliche Chance, zu zeigen, was sie können. In diesem Fall zähle ich ihn nicht zu den Enttäuschungen. Andere hingegen gaben ohne klare Erklärung auf, was Raum für Spekulationen lässt.
Nehmen wir Evenepoel als Beispiel. Sein Leistungsabfall begann in den Pyrenäen und wurde besonders bei der brutalen Auffahrt zum Hautacam sichtbar. Es gab vage Hinweise auf Krankheit, aber keine Transparenz seitens seines Teams, weshalb man sich fragen darf, ob seine Vorbereitung ausreichend war. Diese Unklarheit erschwert die Bewertung seiner Tour, aber angesichts der Erwartungen und des Ergebnisses zählt er zu den Enttäuschungen dieser Ausgabe.
Das spanische Duo Enric Mas und Carlos Rodríguez enttäuschte mich ebenfalls. Auch sie schieden aus (beide verletzt), aber ihre Leistungen davor lagen weit unter den Erwartungen. Sobald sie ihre Hoffnungen auf die Gesamtwertung begraben mussten, versuchten sie, Etappen zu gewinnen, kamen aber nicht wirklich in Schlagdistanz, obwohl Mas am Mont Ventoux eine gute Leistung zeigte.
Matteo Jorgenson war meine letzte Enttäuschung im GC-Bereich. Nach einem 8. Platz im letzten Jahr und dem Sieg bei Paris-Nizza hatte ich erwartet, dass er sich verbessert und erneut Vingegaards bester Helfer wird. Die erste Tour-Woche lief gut, danach ließ seine Form nach, und er hatte keinen großen Einfluss auf das Rennen in den Bergen.
Bei den Sprintern sind zwei Fahrer erwähnenswert: Biniam Girmay und Dylan Groenewegen. Die diesjährige Tour bot viele Chancen für Sprinter, vor allem in der ersten Woche. Man hätte von beiden zumindest einige Top 10-Platzierungen erwartet.
Groenewegen war nie in Schlagdistanz für einen Etappensieg und schaffte kein Top-10-Resultat. Sein Saisonstart war eher enttäuschend. Trotzdem hätte man mit erfahrenen Anfahrern wie Mezgec und Reinders mehr erwarten können.
Girmays Fall ist anders. Der Eritreer erreichte dreimal eine Top-10-Platzierung (unter anderem Platz 2 in der Auftaktetappe in Lille), aber nach drei Etappensiegen im Vorjahr waren die Erwartungen höher. Er versuchte auch, das Grüne Trikot zu gewinnen, war jedoch nie eine echte Bedrohung für Jonathan Milan.
Das Team Intermarché-Wanty war insgesamt recht schwach. Abgesehen von Girmay zeigte keiner der Fahrer besondere Leistungen. Wusstest du, wie viele Ausreißversuche sie hatten? Gerade mal vier (Louis Barré zweimal, Laurenz Rex und Jonas Rutsch jeweils einmal). Das war’s. Eine minimalistische Präsenz während der gesamten Tour – insgesamt eine enttäuschende Vorstellung des belgischen Teams.
Bei den Puncheurs nenne ich Thibau Nys und Marc Hirschi. Beide sind eher auf Eintagesrennen spezialisiert, aber diese Tour bot viele Chancen für sie, besonders in der ersten Woche. Nys stürzte zwar in der ersten Etappe, gestand aber auch, nicht zu verstehen, warum er seine Form nicht fand.
Marc Hirschis Leistung entsprach der seines Teams. Der Schweizer war unsichtbar im Rennen, und der Wechsel von UAE zu Tudor scheint ihm nicht bekommen zu sein.
Ehrenvolle Erwähnungen gehen diesmal an: Team Cofidis, XDS Astana Team, Aleksandr Vlasov, Jordi Meeus, Geraint Thomas und Phil Bauhaus.
Zum Schluss meine größte Enttäuschung, die nichts mit der Leistung eines Fahrers oder Teams zu tun hat, sondern mit etwas, das wir nicht zu sehen bekommen: Tadej Pogačar wird bei der kommenden Vuelta a España fehlen. Das ist ein großer Verlust für das Rennen, besonders weil viele von uns auf die Fortsetzung seines epischen Duells mit Vingegaard gehofft hatten. Leider muss dieses Duell warten. Hoffentlich gibt es bald eine neue Gelegenheit – nur diesmal nicht in Spanien.
Und Sie? Wer waren Ihrer Meinung nach die größten Enttäuschungen bei der Tour? Hinterlassen Sie einen Kommentar und beteiligen Sie sich an der Diskussion!