Die Clasica de San Sebastian gehört jedes Jahr zu den unterhaltsamsten Eintagesrennen im letzten Abschnitt der Radsportsaison – und auch heute wurde sie diesem Ruf wieder gerecht. Das Rennen war hochkarätig besetzt, unter anderem mit Fahrern wie
Isaac del Toro, Maxim van Gils,
Giulio Ciccone und
Juan Ayuso, der nach seinem letzten Einsatz beim Giro d’Italia wieder ins Renngeschehen einstieg. Auch einige der auffälligsten Fahrer der Tour de France, wie Oscar Onley, Tobias Johannessen und Neilson Powless, standen am Start.
Die größte Aufmerksamkeit galt Juan Ayuso. Viele waren gespannt auf seine Form, nachdem er den Giro frühzeitig verlassen hatte und UAE kürzlich entschieden hatte, ihn als Ersatz für Pogacar in das Vuelta-Aufgebot zu berufen. Doch schon kurz nach den ersten Attacken im Peloton wurde deutlich, dass Ayuso noch nicht in Topform ist – er fiel früh im Rennen zurück. Das wirft Fragen auf, ob es die richtige Entscheidung war, ihn anstelle anderer Teamkollegen für die Vuelta zu nominieren.
Isaac del Toro und
Jan Christen übernahmen schließlich die Führungsrolle für das Team in einem spannenden Schlagabtausch mit LIDL-Trek und Giulio Ciccone. Am Ende setzte sich der italienische Fahrer durch und sicherte sich einen prestigeträchtigen Sieg – als Nachfolger von Marc Hirschi bei der Clásica de San Sebastián.
Nach dem Rennen haben wir einige unserer Redakteur*innen gebeten, ihre Eindrücke und wichtigsten Erkenntnisse zum heutigen Tag zu teilen.
Pascal Michiels (RadSportAktuell)
Nicht jede Erfahrung ist gleich. In dieser Ausgabe der Clásica San Sebastián war es zunächst Primož Roglič, der das Rennen an der Spitze kurzzeitig aufmischte. Isaac del Toro und Giulio Ciccone nutzten die Situation sofort aus und fuhren sich einen Vorsprung von fast einer Minute heraus. Doch ein letzter Prüfstein im Baskenland wartete noch: der steile Anstieg der Murgil Tontorra. Viele rechneten damit, dass der Mexikaner den Italiener dort abhängen würde – doch dann kam plötzlich eine Rakete von hinten. Sein Name? Jan Christen.
Das junge Schweizer Talent flog förmlich den Berg hoch und schloss den 40-Sekunden-Rückstand zur Spitze in einem Zug. Plötzlich brach Del Toro ein, und Christen dachte sich offenbar: „Egal, ich fahre so gut bergauf, ich zieh das jetzt alleine durch.“ Doch genau das war ein schwerer Fehler in der Einschätzung. Ciccone zögerte keine zwei Sekunden, klemmte sich an Christens Hinterrad – und wartete auf den perfekten Moment.
Nur kurz darauf setzte der Italiener zur eigenen Attacke an und ließ die beiden Youngster alt aussehen. Am Ende sicherte er sich hochverdient den Sieg. Die jugendliche Selbstüberschätzung der beiden UAE-Fahrer kostete sie das Rennen. Wären sie jeweils fünf Jahre älter gewesen, wäre das vermutlich nicht passiert. Erfahrung spielt im Radsport eben eine zentrale Rolle.
Und Roglič? Der hatte am Ende keinerlei Einfluss auf den Rennausgang dieser Clásica San Sebastián – ebenfalls eine wichtige Erkenntnis. Und Ausreden hat er keine. Er hat Erfahrung – jede Menge davon.
Víctor LF (CiclismoAlDía)
Große Enttäuschung für Juan Ayuso bei seiner Rückkehr in den Rennbetrieb. Manche mögen einwenden, dass er seit über zwei Monaten kein Rennen mehr bestritten hatte und es daher hart sei, seine Leistung als enttäuschend zu bezeichnen – doch Giulio Ciccone hatte den Giro d’Italia ebenfalls vorzeitig verlassen und gab heute dennoch allen eine Lektion im Radsport.
Bitter auch für UAE Team Emirates XRG, das mit zwei Fahrern in einer führenden Dreiergruppe vertreten war und Ciccone dennoch nicht schlagen konnte. Jan Christen ging eigentlich als Helfer ins Rennen – und dennoch war es beachtlich, dass er mit gerade einmal 21 Jahren Zweiter bei der Clásica de San Sebastián wurde.
Isaac del Toro hingegen hatte zwischenzeitlich den Anschein, als könnte er der Top-Favorit auf den Sieg sein, landete am Ende aber nur auf Platz fünf. Möglicherweise machte sich die Belastung durch die vielen Renntage in den vergangenen Wochen bemerkbar – oder der Unterschied im Niveau im Vergleich zu den Rennen, bei denen er zuletzt geglänzt hatte. Wie auch immer: Ein Podestplatz war in Reichweite, und das Nichterreichen davon ist angesichts der Erwartungen eine Enttäuschung.
Juan Ayuso wird einer der Anführer des UAE Team Emirates XRG bei der Vuelta a España 2025 sein.
Félix Serna (CyclingUpToDate)
UAE ging bei diesem Rennen als das zu schlagende Team an den Start – mit zwei klaren Favoriten: Juan Ayuso und Isaac del Toro. An del Toros Form gab es keinerlei Zweifel. Nach seinem zweiten Platz beim Giro d’Italia gewann er die Österreich-Rundfahrt und zeigte auch bei mehreren spanischen Eintagesrennen starke Leistungen. Bei Ayuso hingegen war die Form ein großes Fragezeichen – zumindest für alle außerhalb des UAE-Teams. Nach der überraschenden Nachricht, dass er Pogačar im Vuelta-Aufgebot ersetzen würde, konnte man annehmen, dass Ayuso wieder bei Kräften sei. Doch nichts hätte weiter von der Wahrheit entfernt sein können.
Kaum wurde das Tempo im Peloton nach Roglics Attacke verschärft, fiel der Spanier zurück – ein klarer Beleg dafür, dass er noch nicht in Bestform ist. Vielleicht braucht er einfach mehr Zeit zur Vorbereitung nach den Problemen beim Giro. Oder er ist mental blockiert. Fest steht: Das gemeinsame Antreten mit Isaac del Toro scheint ihm momentan nicht gutzutun.
Del Toro gehört aktuell zu den konstantesten und stabilsten Fahrern im gesamten Peloton. Seine Form ist überragend, und er scheint von der Unruhe im Team, die Ayusos Anwesenheit regelmäßig mit sich bringt, völlig unbeeindruckt – ein Zeichen für Persönlichkeit und mentale Stärke. Er ist schon jetzt ein großartiger Leader, und mit wachsender Erfahrung wird er ein noch besserer. Heute fehlten ihm lediglich etwas Ruhe und bessere Kommunikation mit Teamkollege Jan Christen – zusammen verpassten sie eine echte Siegchance gegen Ciccone.
Der Italiener selbst gab zu, dass er nach zwei Monaten ohne Rennen und seinem Ausstieg beim Giro nicht mit einem Sieg gerechnet hatte. Eine ähnliche Ausgangslage wie bei Ayuso – mit dem entscheidenden Unterschied: Ciccone bewies, dass er bereits wieder in Topform ist. Auch er plant einen Start bei der Vuelta in wenigen Wochen.
Ich glaube weiterhin, dass Ayuso noch genügend Zeit hat, um sich für die Vuelta a España vorzubereiten, und dass er mit zunehmender Rennpraxis wieder bessere Beine finden wird. Dennoch stellt sich unweigerlich die Frage, ob UAE mit seiner Nominierung die richtige Entscheidung getroffen hat. Er soll sich die Führungsrolle mit João Almeida teilen – doch was passiert, wenn er erneut so enttäuschend auftritt wie beim Giro? Psychologisch wäre das ein herber Rückschlag für ihn. Möglicherweise müsste er sich dann mit der Rolle eines Helfers abfinden – und das ist bekanntlich nicht seine Stärke.
Was UAE Team Emirates allerdings nicht fehlt, ist Tiefe. Das Team verfügt über zahlreiche starke Kletterer und hätte ohne Weiteres auch auf andere Optionen zurückgreifen können. Del Toro wäre beispielsweise eine hervorragende Wahl gewesen. Doch UAE hat mehrfach betont, dass man jungen Fahrern keine zwei Grand Tours im selben Jahr zumutet. Bei Ayuso hingegen hat man offenbar eine Ausnahme gemacht.
Ob das die richtige Entscheidung war, wird die Zeit zeigen. In der Zwischenzeit können wir uns auf die verbleibenden Rennen vor der Vuelta freuen. Del Toro wird kommende Woche wohl bei der Vuelta a Burgos starten – und morgen steht mit dem Circuito de Getxo ein weiterer spannender spanischer Eintagesklassiker an.
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