Die 14. Etappe galt auf dem Papier als der bislang härteste Tag der
Tour de France. Auch wenn die Zeitabstände am Ende nicht so gravierend ausfielen wie etwa bei der legendären Etappe nach Hautacam, war die aufgestaute Erschöpfung nicht zu übersehen – und führte letztlich zum Rückzug eines sichtlich ausgebrannten und mental angeschlagenen
Remco Evenepoel. In den WEDŪ-Podcasts äußerten sich mehrere ehemalige Profis und Experten zum überraschenden Ausstieg des Weltmeisters und Olympiasiegers.
Bradley Wiggins sprach von einer vorhersehbaren Entwicklung. Er erklärte, Evenepoel sei bereits nach dem Zeitfahren am Freitag spürbar desillusioniert gewesen, als er von Jonas Vingegaard überholt wurde. Am Tourmalet habe man ihn nahezu orientierungslos am Straßenrand fahren sehen, mit einem Blick voller Frust in Richtung Kamera – als würde er sehnsüchtig auf das Begleitfahrzeug warten, das ihn erlöst. „Da stimmt eindeutig etwas nicht“, so Wiggins. Gleichzeitig betonte er, dass Evenepoel ohne ideale Vorbereitung in die Tour gestartet sei und nun den Preis dafür zahle – ebenso wie für die verständlicherweise hohen Erwartungen, die an ihn gestellt wurden. Laut Wiggins sei es nahezu unmöglich, gegen Fahrer wie Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard zu bestehen, wenn man nicht bei 100 Prozent ist. Der Belgier habe nach seinem Sturz zu lange auf Training verzichten müssen. Auch wenn er im Zeitfahren erneut gezeigt habe, dass er zur absoluten Weltspitze gehört, könne man vier Monate ohne durchgehendes Training nicht einfach kompensieren.
Johan Bruyneel konzentrierte sich in seiner Analyse besonders auf die Rolle des Kameramotorrads, das Evenepoel während seiner letzten Rennstunden ununterbrochen begleitet habe – sehr zu dessen Missfallen. Er betonte, dass er selbst nicht als großer Verteidiger von Evenepoel gelte, der einen starken Charakter habe, doch er habe vollstes Verständnis für dessen Frustration in diesem Moment. „Er war so enttäuscht, so traurig. Lasst den Kerl einfach mal in Ruhe“, sagte Bruyneel. Er wies außerdem darauf hin, dass Evenepoel nach seinem Trainingssturz im Dezember nicht wie behauptet vier Monate ohne Radtraining gewesen sei, aber dennoch einen erheblichen Trainingsrückstand gehabt habe. Zwar sei er bei Rennen wie der Brabantse Pijl mit hoher Intensität in die Saison gestartet, doch es habe ihm an der nötigen Grundlage gefehlt – und genau diese sei bei einer Grand Tour entscheidend.
Lance Armstrong brachte einen weiteren Aspekt ins Spiel: den mentalen Druck abseits der sportlichen Leistung. Er vermutet, dass die anhaltenden Spekulationen über einen möglichen Teamwechsel Evenepoel zusätzlich belastet hätten. „Diese Gerüchte ziehen auch mir Energie ab. Ich möchte ehrlich gesagt nicht der Manager bei Red Bull–BORA–hansgrohe sein, wenn dort gerade Lipowitz als Dritter in der Gesamtwertung fährt. Den kannst du doch nicht einfach für Remco aus dem Rennen nehmen.“ Armstrong deutete an, dass sich hinter dem Rückzug noch mehr verbergen könnte, als bisher kommuniziert wurde.
Auch Analyst Spencer Martin übte Kritik – allerdings mit Blick auf Evenepoels Karriereentwicklung. Er hält wenig von der immer wieder betonten Jugend des Belgiers. „Er ist nur ein Jahr jünger als Pogacar“, sagte Martin. Natürlich sei der Zusammenstoß mit dem Postauto im Dezember tragisch gewesen, doch man dürfe sich nicht dauerhaft hinter Pech verstecken. Er warnte davor, dass sich die verlorenen Jahre langsam summieren und Evenepoel nicht unendlich viele Chancen haben werde, um bei einer Grand Tour ganz vorne mitzumischen.
Trotz aller Kritik bleibt festzuhalten: Evenepoel ist ein Ausnahmetalent, doch bei einer Tour de France auf diesem Niveau reicht Talent allein nicht aus. Ohne vollständige Vorbereitung, mit psychischem Druck und fehlender Rennhärte in den Bergen ist selbst für einen Weltmeister das Limit schnell erreicht. Wie es für ihn weitergeht, bleibt offen – doch eines ist klar: Die Tour verzeiht keine Schwäche.