ANALYSE | Pogacar gegen die Hölle des Nordens - ein Debüt mit historischem Gewicht

Radsport
durch Nic Gayer
Freitag, 11 April 2025 um 12:00
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Dieser Sonntag markiert einen besonderen Moment in der Geschichte des Radsports: das mit Spannung erwartete Debüt von Tadej Pogacar bei Paris–Roubaix. Es ist das erste Mal, dass der kompletteste Fahrer seiner Generation das berüchtigte Rennen durch das Kopfsteinpflaster Nordfrankreichs in Angriff nimmt. Die "Hölle des Nordens" trifft auf den Mann, der 2024 den gesamten Sport dominiert hat. Allein seine Anwesenheit macht Paris–Roubaix in diesem Jahr zu mehr als nur einem Eintagesrennen – es ist ein Ereignis mit historischem Potenzial.
Hat es je ein Debüt in Roubaix gegeben, das so gespannt erwartet wurde? Pogacar kommt nicht nur als Monument-Sieger, sondern als Giro-, Tour- und Weltmeister-Titelträger. Er steht an der Schwelle zu einer Neudefinition dessen, was im Radsport als möglich gilt.
Die Neudefinition des Sports
Im Jahr 2024 schrieb Pogacar Geschichte: Er gewann Giro d'Italia, Tour de France und die UCI-Weltmeisterschaft im Straßenrennen in einer Saison. Diese moderne "Triple Crown" wurde seit Jahrzehnten nicht mehr erreicht und gelang zuvor nur zweimal in der Geschichte. Pogacar holte dabei zwölf Etappensiege in Grand Tours und dominierte mit einer Mischung aus Angriffslust, Ausdauer und Rennintelligenz.
Noch nie zuvor hat ein Fahrer des 21. Jahrhunderts Vergleichbares geleistet. Das Giro-Tour-Double galt fast als Relikt der Vergangenheit, bis Pogacar es wieder zur Realität machte. Der Weltmeistertitel krönte nicht nur seine Saison, sondern unterstrich auch seinen kompromisslosen Stil. Er verteidigt nicht, er attackiert. Er wartet nicht, er gestaltet.
Und doch: Selbst nach all dem könnte ein Sieg in Roubaix 2025 bedeutender sein als alles zuvor.
Form bei den Monumenten
Roubaix ist eines von nur zwei Monumenten, die Pogacar noch fehlen. Das andere ist Mailand–Sanremo. Im März griff er Sanremo mit chirurgischer Präzision an, erklomm den Poggio mit Wucht, doch Van der Poel konterte und siegte.
Pogacar hatte zuvor erklärt, dass Sanremo sein größter Wunsch sei. Vielleicht war es die Enttäuschung dort, die ihn motivierte, das Unmögliche zu versuchen: einen Angriff auf Roubaix. Ein Rennen, das Grand-Tour-Fahrer bislang mieden. Zu riskant. Zu brutal. Zu wenig kalkulierbar. Doch Pogacar ist keiner, der sich von Traditionen einschränken lässt. Wo andere Grenzen sehen, erkennt er Möglichkeiten.
Er will mehr als nur gewinnen. Er will vollständig sein.
Niederlage gegen van der Poel: 1:1
Der erste Schritt Richtung Vollständigkeit gelang Pogacar am vergangenen Wochenende. Bei der Flandern-Rundfahrt besiegte er Van der Poel und sicherte sich seinen zweiten Titel. Es war zugleich das erste Mal in diesem Frühjahr, dass Pogacar den Niederländer bezwingen konnte. In Sanremo hatte Van der Poel die Nase vorn gehabt.
Erinnern wir uns: Van der Poel gewann 2024 an zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden Flandern und Roubaix – in Regenbogenfarben. Die Rivalität zwischen Pogacar und Van der Poel hat sich zur vielleicht packendsten im modernen Radsport entwickelt. Länger als jene zwischen Pogacar und Vingegaard oder Van der Poel und Van Aert. Jetzt steht es 1:1. Und Roubaix könnte zur Entscheidung führen.
Ein Duell zweier Radsport-Giganten: Mathieu van der Poel und Tadej Pogacar
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Doch Roubaix ist nicht Flandern. Keine Hügel, keine Anstiege wie Paterberg oder Oude Kwaremont. Nur rohe Gewalt, brutales Kopfsteinpflaster, Geschwindigkeit und Leid. Die Frage ist: Wo kann der Weltmeister die großen Klassiker-Spezialisten distanzieren?
David gegen Goliath – im Matsch
Pogacar wiegt rund 66 Kilogramm. Die dominierenden Roubaix-Fahrer bringen oft 85 bis 90 Kilo auf die Waage. Filippo Ganna, Wout van Aert, Mads Pedersen, Mathieu van der Poel – sie alle setzen auf rohe Kraft, um über die Steine zu fliegen. Dirk Demol, Roubaix-Sieger von 1988, formulierte es klar: "Es würde mich sehr überraschen, wenn er die anderen übertrumpfen würde."
Pogacars Chancen wirken objektiv gering. Aber auch bei der WM glaubte kaum jemand an seinen Soloritt über 100 Kilometer. Auch beim Giro-Tour-Doppel waren die Zweifel groß. Pogacar lebt davon, das Unwahrscheinliche zu wagen.
Wo könnte er attackieren? Arenberg? Mons-en-Pévèle? Carrefour de l'Arbre? Diese Abschnitte entscheiden Rennen. Und wenn Pogacar die Beine von Flandern hat, wird er dort seine Möglichkeit suchen.
Ein neues Kapitel gegen alte Regeln
Noch vor zehn Jahren war es undenkbar, dass ein Grand-Tour-Fahrer Roubaix gewinnt. Die Spezialisierung regierte den Sport. GC-Fahrer wurden wie Kletterer konstruiert, auf Juli getrimmt, auf drei Wochen im Hochgebirge vorbereitet. Klassikerrennen auf Kopfsteinpflaster? Undenkbar.
Fahrer wie Froome und Nibali waren großartig, aber begrenzt. Roubaix lag außerhalb ihrer Welt. Dann kam Pogacar. Mit seinem Debüt bei der Flandern-Rundfahrt 2022 begann der Wandel. Ein Jahr später gewann er sie. 2024 dann Giro, Tour, WM – und nun Roubaix.
Es gibt keinen Kalender, kein Dogma, das er nicht in Frage stellt. Pogacar definiert neu, was ein Radprofi sein kann.
Nach den Klassikern wird Pogacar sein Augenmerk wieder auf die Tour de France richten
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Merckx gegen Pogacar
Wenn Pogacar am Sonntag Roubaix gewinnt, werden die Vergleiche mit Eddy Merckx nicht mehr nur poetisch, sondern messbar. Merckx gewann Monumente und Grand Tours im Gleichschritt. 1975 holte er Sanremo, Flandern und Lüttich, wurde Zweiter in Roubaix und Sechster in der Lombardei.
Seitdem kam niemand mehr an diese Saison heran. Doch Pogacar wurde Dritter in Sanremo, gewann Flandern und hat Roubaix, Lüttich und die Lombardei noch vor sich. Lüttich hat er bereits zweimal gewonnen, in der Lombardei ist er seit vier Jahren ungeschlagen.
Pogacar ist auf der Jagd nach der Größe von Eddy Merckx
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Laut Radsportstatistiken könnte Pogacar 2025 die beste Monumentensaison aller Zeiten fahren. Alle fünf Monumente in einem Jahr zu bestreiten ist selten. Bei allen fünf um den Sieg zu fahren – das wäre einzigartig.
Ein kleiner Wermutstropfen: Merckx gewann 1975 keine Grand Tour. Vielleicht ein gutes Omen für Evenepoel oder Vingegaard.
Fünf Monumente?
Nur drei Fahrer haben alle fünf Monumente gewonnen: Rik Van Looy, Eddy Merckx und Roger De Vlaeminck. Pogacar hat bereits viermal die Lombardei, zweimal Lüttich und zweimal Flandern gewonnen. In Sanremo stand er auf dem Podium. Roubaix fehlt noch.
Ein Sieg hier würde ihn in den Klub der Unsterblichen katapultieren. Vielleicht sogar auf den Weg zum größten Fahrer aller Zeiten. Aber das Pflaster von Roubaix ist erbarmungslos. Regen, Stürze, Technikdefekte – alles kann passieren. Die Konkurrenz ist so stark wie selten zuvor: Van der Poel, Ganna, Pedersen, Küng, Van Aert, Philipsen und andere werden nichts verschenken.
Genau deshalb ist Pogacars Start so bedeutsam.
Alles für eine Chance
Er riskiert alles: seinen Ruf, seine Form, seinen Körper. Für eine Chance auf Roubaix. Selbst wenn er nicht gewinnt, hat er die Regeln des Sports neu geschrieben.
Jahrzehntelang war Spezialisierung das Dogma. Fahrer wurden früh auf Rollen festgelegt. Sprinter, Kletterer, Zeitfahrer, GC-Kapitäne. Wechsel zwischen Disziplinen? Kaum denkbar. Doch Pogacar sprengt dieses Korsett. Seine Erfolge bei Giro, Tour und WM inspirieren bereits andere. Mehr GC-Fahrer denken über Klassiker nach. Sogar Sprinter verändern ihre Kalender.
Alles steht auf dem Spiel
Mit dem Aufbruch kommt der Druck. Roubaix kennt keine Gnade. Tom Boonen gewann viermal, scheiterte aber ebenso oft. Peter Sagan siegte einmal, stürzte aber mehrfach. Cancellara, Van Aert, Vanmarcke – sie alle erlebten hier Triumph und Tragödie.
Pogacar tritt zum ersten Mal an. Und anders als in Flandern gibt es keine Anstiege, um sich abzusetzen. Nur flaches, schnelles, brutales Terrain. Genau das macht es so spannend.
Dieser Sonntag wird ein Wagnis. Pogacar hat bereits die Alpen bezwungen, die Etappenrennen dominiert und Monumente gewonnen. Er hat Sprinter geschlagen, Kletterer entzaubert, Taktiker überlistet.
Was auch passiert: Er hat den Sport verändert. Sein Start bei Roubaix nach Giro, Flandern und WM ist bereits ein Vermächtnis.
Wenn er gewinnt, wird es nicht nur ein Sieg sein. Es wird ein Wendepunkt für den gesamten Radsport sein.
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