ANALYSE | Die größten Momente in der Geschichte der Lombardei-Rundfahrt

Radsport
Samstag, 11 Oktober 2025 um 11:00
TadejPogacar (2)
Endlich ist es soweit. Die Lombardei-Rundfahrt, das letzte Monument des Radsportjahres, steht vor der Tür. Es ist das Rennen, das kommt, wenn die Luft dünner wird, die Blätter sich verfärben und die Müdigkeit an jedem Pedal hängt. Und doch schafft es die „Klassikerin der fallenden Blätter“ Jahr für Jahr, einige der emotionalsten, chaotischsten und zugleich poetischsten Momente des gesamten Sports hervorzubringen.
Seit mehr als einem Jahrhundert ist die Lombardei-Rundfahrt die Bühne für Erlösung, Abschied und gelegentlich für pure Magie – ein Rennen, das so sehr nach Ende schmeckt und doch immer wieder Neuanfänge schreibt.
Fünf Ausgaben haben in besonderer Weise all das eingefangen, was die Lombardei ausmacht: Schönheit und Schmerz, Kalkül und Wahnsinn, Triumph und Tragödie. Bevor also heute die ersten Pedale getreten werden, werfen wir einen Blick zurück auf einige der denkwürdigsten Kapitel dieses großen, letzten Tanzes des Radsportjahres.

Die Coppi-Jahre

Die Geschichte beginnt im Jahr 1946, beim ersten Rennen nach dem Zweiten Weltkrieg. Italien lag in Trümmern, doch Fausto Coppi – gerade einmal siebenundzwanzig Jahre alt – wurde zum Symbol des Wiederaufbaus. An jenem Herbsttag attackierte er auf der 231 Kilometer langen Strecke von Mailand aus zunächst an der Madonna del Ghisallo, dann noch einmal auf der Ghisolfa-Brücke – und erreichte das Velodrom Vigorelli allein, vierzig Sekunden vor dem Rest.
Es war der Beginn einer Dynastie. Coppi gewann die Lombardei vier Jahre in Folge, von 1946 bis 1949, und begründete damit die Legende des Campionissimo. In einem Land, das aus der Not erwachte, wurde sein Angriff nicht nur als sportliche Tat, sondern als nationale Katharsis gefeiert. La Lombardia hatte ihre Identität gefunden: eine Bühne der Erneuerung im Gegenlicht des Herbsts.
Acht Jahre später, 1954, kehrte Coppi zurück – für seinen fünften und letzten Triumph. Es war keine heroische Solofahrt mehr, sondern ein Spiel aus Geduld, Kalkül und Instinkt. Sein Rivale Fiorenzo Magni saß ihm im Nacken, und zum ersten Mal musste Coppi mehr auf das Timing als auf pure Überlegenheit setzen.
Auf den letzten Kilometern lagen die beiden Italiener so dicht beieinander, dass selbst im Mailänder Velodrom niemand den Sieger sicher kannte. Coppi fand im Sprint einen schmalen Korridor, schob sich an Magni vorbei und sicherte sich einen rekordverdächtigen fünften Sieg – bis heute unerreicht, auch wenn Tadej Pogacar ihn nun zu egalisieren droht.
tadej pogacar
Tadej Pogacar hat seinen Weltmeistertitel in Ruanda erfolgreich verteidigt
Zu diesem Zeitpunkt war Coppis Privatleben bereits in einen nationalen Skandal verstrickt, seine Gesundheit angeschlagen, die großen Duelle mit Bartali Geschichte. Die Lombardei 1954 wurde zu seinem letzten Moment der totalen Kontrolle – ein Abgesang auf die goldene Ära des Radsports und ein Maßstab, an dem sich noch heute jeder Champion, von Merckx bis Pogacar, im Stillen misst.
Zwei Jahre später schrieb das Rennen eines seiner seltsamsten und menschlichsten Kapitel. Die Ausgabe von 1956 ist weniger wegen des Siegers André Darrigade in Erinnerung geblieben als wegen des Dramas, das sich unterwegs entfaltete. Coppi attackierte am Ghisallo, dicht gefolgt von Diego Ronchini. Dahinter verlor Magni den Anschluss – und wurde, so will es die Legende, von einem Auto überholt, in dem Giulia Occhini, die Dama Bianca und Coppis Geliebte, saß. Ihr Blick – vielleicht auch ihr Lächeln – soll Magni in Brand gesetzt haben.
Von Wut getrieben, startete er eine furiose Verfolgung, holte Meter um Meter auf, bis Darrigade im perfekten Moment an beiden vorbeizog und den Sieg holte. Es war ein Melodrama, wie es nur der italienische Sport kennt: Leidenschaft, Rivalität, Verrat und der schmale Grat zwischen Rache und Erschöpfung. Einmal mehr hatte die Lombardei gezeigt, dass sie das emotionalste aller Monumente ist – ein Rennen, in dem das Herz oft stärker schlägt als die Vernunft.

Das 21. Jahrhundert

Ein halbes Jahrhundert später kehrte der Regen zurück, um seine Rolle als Antagonist zurückzuerobern. Die Ausgabe 2010 fand unter einem bleiernen Himmel statt, die Straßen waren glitschig und tückisch. Philippe Gilbert, längst als Meister des Herbstkalenders bekannt, setzte sich gemeinsam mit Michele Scarponi an den Hängen über dem Comer See ab.
Am letzten Anstieg, dem San Fermo della Battaglia, griff Gilbert an, nahm die Abfahrt allein in Angriff und fuhr durchnässt und zitternd ins Ziel. Hinter ihm glich die Abfahrt einem Schlachtfeld – Fahrer stürzten über aufgemalte Linien, Träume zerschellten in Sekunden. Zwei Jahre später sollte sich das Schicksal umkehren, als Gilbert, nun im Regenbogentrikot, auf denselben nassen Straßen selbst zu Boden ging.
Dann kam 2024, eine Ausgabe, die in der Radsport-Folklore bereits neben den Coppi-Jahrgängen steht. Tadej Pogacar, im Trikot des Weltmeisters, griff auf dem Colma di Sormano an – noch 48 Kilometer vor dem Ziel. Es war ein kühner, fast übermütiger Angriff, doch für ihn fast schon vorhersehbar: lange bevor die Fernsehhubschrauber kreisten, war er allein.
Von diesem Moment an war das Rennen entschieden. Remco Evenepoel, amtierender Zeitfahrweltmeister und zweifacher Olympiasieger, versuchte zu jagen, doch der Rückstand wuchs auf über drei Minuten. Als Pogacar Como erreichte, war die Sonne bereits untergegangen – und der Vorsprung der größte seit Merckx 1971.
„Jeder Sieg ist etwas Besonderes“, sagte Pogacar an jenem Abend. „Auch der heutige, denn das Team hat das ganze Jahr über hart gearbeitet – und heute war es nicht anders.“ Die Frage bleibt: Kann Pogacar dieses Kunststück heute wiederholen?
Fünf Epochen, fünf Ethnien, und doch schlägt in allen derselbe Puls. La Lombardia belohnt den einsamen Künstler: den Bergfahrer, der früh wagt; den Abfahrer, der sich weigert, zu bremsen; den Romantiker, der auf Emotionen reitet. Sie alle vereint ein gemeinsamer Nenner – der Mut, allein zu sein.
Ein Muster zieht sich durch die Geschichte. Coppis Siege rahmen das Rennen als Wiederauferstehung nach dem Krieg ein. Magnis Rache verleiht ihm Melodrama. Gilberts Sturm und Pogacars Einsamkeit machen es zu einem Kampf der Elemente. Immer spiegelt die Lombardei den Charakter ihres Siegers wider. Während die Frühjahrsmonumente – Flandern, Roubaix, Lüttich – von kollektivem Leiden erzählen, ist die Lombardei ein Duell mit sich selbst: Körper gegen Müdigkeit, Wille gegen Schwerkraft.
Am Ende der Saison ist sie das letzte Bekenntnis des Radsports. Die Fahrer tragen Monate der Form, des Glücks oder der Enttäuschung in sich: Die Grand-Tour-Sieger kommen, um ihr Jahr zu krönen; die Gescheiterten, um es zu retten. La Lombardia ist die letzte Gelegenheit, ein Kapitel mit Würde zu schließen – oder in ein Denkmal zu verwandeln.
Auch ihre Wandelbarkeit gehört zu ihrem Zauber. Start und Ziel wechselten unzählige Male – Mailand, Como, Bergamo –, doch die Essenz blieb. Jede Variante ist nur eine neue Komposition desselben Vokabulars: Steigungen und Seen, Einsamkeit und Müdigkeit, Licht und Nebel.
Es ist das Monument, das am vollständigsten ist – eine Kreuzung zwischen der Ausdauer einer Grand Tour und der Aggressivität eines Klassikers. Mailand–Sanremo bevorzugt die Puncheure, Roubaix und Flandern gehören den Starken, Lüttich den Kletterern, die sprinten können. Die Lombardei verlangt alles auf einmal: Langstreckenhärte, Abfahrtstechnik und den Mut zur frühen Attacke. Vielleicht erklärt das, warum so viele Grand-Tour-Sieger hier über sich hinausgewachsen sind.
Jedes Jahr im Oktober, wenn sich das Peloton durch die Kastanienwälder der Lombardei und über die Stufen der Ghisallo-Kapelle schlängelt, wirkt es wie ein Ritual. Die Fans am Straßenrand jubeln nicht nur den Fahrern zu, sondern auch den Geistern der Vergangenheit.
Und so stellt sich jedes Jahr dieselbe Frage – leise, fast andächtig: Wird Pogacar heute zu Coppi stoßen?
Klatscht 0Besucher 0
loading

Gerade In

Beliebte Nachrichten

Loading