Nur wenige Wochen nach seinem EM-Titel im Cross in Middelkerke – fast vier Jahre nach dem positiven Test, der seine Karriere ins Stocken brachte – spricht
Toon Aerts bemerkenswert offen über das durchlittene Martyrium, die offenen Fragen, die ihn bis heute verfolgen, und die Last, die sein Comeback von seinen Schultern nahm.
In einem ausführlichen Gespräch mit Humo schildert der 32-Jährige, wie der Kampf um seine Rehabilitierung ihn aufgerieben hat, warum er das System als gescheitert empfindet und wie die Rückkehr zu Siegen ihm endlich „Abschluss“ für die dunkelste Phase seines Lebens brachte.
Middelkerke, sagt er, war nie nur ein weiterer Sieg. „Mir wurde großes Unrecht angetan: Zwei starke Jahre meiner Karriere wurden mir genommen. Dieser Titel macht das nicht ungeschehen. Nein, ‚Wiedergutmachung‘ ist hier nicht der richtige Begriff.“
Er fürchtete lange, dass die verlorenen Saisons sein Niveau dauerhaft beschädigt hätten – doch der EM-Titel bewies sowohl für ihn selbst als auch für andere: Er ist zurück. „Lange war das ein riesiges Fragezeichen, aber jetzt kann ich sagen, dass ich wieder auf meinem Level bin. Die Lektionen der letzten Jahre haben sicher dazu beigetragen. Von Burnout bin ich weit entfernt, etwas, das bei anderen mit 32 schon anklopfen kann.“
Ich habe endlos recherchiert… eine Nadel im Heuhaufen, die ich nie finden werde
Aerts gibt zu, dass ihn die verzweifelte Suche nach einer Erklärung psychisch zermürbte, nachdem 2022 in
World Cup Flamanville Letrozol in seiner Urinprobe nachgewiesen worden war.
„Bis vor sechs Monaten habe ich täglich daran gearbeitet“, sagt er. „Ich habe unendlich viel über den Stoff und seine Verwendungszwecke recherchiert – offenbar vor allem in der Viehzucht. Inzwischen habe ich es losgelassen: Es machte mich nicht glücklich. Es ist wie eine Nadel im Heuhaufen, die ich nie finden werde.“
Für Aerts bleibt Kontamination die einzige plausible Erklärung. „Ich habe zwei Theorien: Entweder kam es über verunreinigte Supplemente, oder von diesem Ort in Frankreich – ein Jahr später wurde bekannt, dass auch
Shari Bossuyt dort positiv getestet wurde. Aber wir konnten unseren Verdacht nicht ausreichend untermauern, um einen Freispruch zu erreichen.“
Selbst seine viel diskutierte „Normandie-Milch“-Hypothese war nur der Versuch, dem Unerklärlichen eine Logik zu geben. „Ist es Zufall, dass sowohl bei Shari als auch bei mir etwas gefunden wurde? Wir wissen es nicht. Aber ich muss die Ursache irgendwo suchen. Anders ist es nicht auszuhalten.“
Toon Aerts kehrte mit dem EM-Titel emotional an die Spitze zurück
Sie wissen, dass ich nichts falsch gemacht habe – Aerts über die UCI und die Unschuldsvermutung
In einem der prägnantesten Abschnitte des Interviews betont Aerts, dass der Radsport-Weltverband bereits anerkannte, dass er keinen Betrugsvorsatz hatte:
„Die
UCI schrieb in ihrem Bericht, es handle sich um eine unabsichtliche Verwendung. Mit anderen Worten: Ich wollte diese Substanz nie aufnehmen. Sie wissen, dass ich nichts falsch gemacht habe. Darum gewährten sie mir auch einen Bonus: Meine Sperre wurde von vier auf zwei Jahre reduziert.“
Doch Aerts spricht offen darüber, was diese Reduktion tatsächlich bedeutete:
„Ob das alles korrekt ist? Man kann Fragen dazu stellen.“
Ebenso deutlich äußert er sich über die fast unmögliche Beweislast für Fahrer, die ein Negativ nachweisen müssen:
„Ich musste selbst ermitteln, wie etwas, das ich nie in meinem Körper wollte, dort hineingelangt ist. Ich habe nie etwas von dubiosen Websites bestellt. Alles kam vom Team. Ich habe mich immer so gut wie möglich geschützt und getan, was ich für richtig hielt. Trotzdem ist irgendwo etwas schiefgelaufen. Hätte ich schwarz auf weiß belegen können, was die Ursache war, wäre ich nie zwei Jahre gesperrt worden.“
Ein weitergehender Rechtsweg erschien ihm weder finanziell noch praktisch realistisch:
„Abgesehen vom Finanziellen hätte eine Berufung wenig gebracht. Das endgültige UCI-Urteil kam erst nach eineinhalb Jahren. Da blieben mir nur noch sechs Monate Sperre. Ich würde dafür nicht noch Tausende Euro ausgeben. Es hatte mich schon genug gekostet.“
Ich habe oft aus Rache trainiert… Wut löst nichts
Aerts räumt ein, dass er nach seiner Rückkehr zunächst mit Wut in den Beinen ins Renngeschehen zurückkehrte. „Nach meiner Sperre war ich überzeugt, dass bald klar würde, dass alles ein Missverständnis war. Damals habe ich oft aus Rache trainiert. Selbst meine ersten Rennen, als ich wieder starten durfte, bin ich aggressiv gefahren.“
Doch er merkte schnell, wie destruktiv diese Wut war. „Ich habe gesehen, dass das nicht funktioniert: Wut löst nichts. Ich sollte mich nicht dazu herablassen, den Behörden, die mich bestraft haben, noch mehr den Krieg zu erklären. Ich habe zu viel Respekt – Respekt, den sie mir nicht entgegengebracht haben.“
Stattdessen zwang er sich zur Erkenntnis, dass allein er entscheidet, wie seine Geschichte weitergeht. „Plötzlich musste ich mich zusammennehmen, denken und handeln wie ein richtiger Erwachsener. Erwachsensein heißt, nicht zurückzutreten. Andere hatten mein Schicksal in der Hand. Jetzt sind sie am Zug, Reue zu empfinden und die richtigen Lehren zu ziehen, damit nicht weitere Menschen zu Opfern werden.“
Ich habe der Radsportwelt gezeigt, dass ich zurück bin
Für Aerts war Middelkerke der Moment, in dem die Last der letzten vier Jahre endlich abfiel – der Moment, in dem er dem Sport wieder in die Augen sehen konnte. „Ich habe der Radsportwelt gezeigt, dass ich zurück bin. Darauf bin ich stolz. Und stolz auf das Team um mich herum.“
Nach allem, was er durchgestanden hat – die Ungewissheit, den finanziellen Schaden, den Verdacht, die quälende Suche nach Antworten, die vielleicht nie kommen – kann er endlich sagen, dass er das dunkelste Kapitel hinter sich lässt.
Erlösung ist für Toon Aerts keine abstrakte Idee. Sie ist etwas, das er sich Meter für Meter zurückerkämpfen musste, nachdem er beinahe vollständig aus dem Sport gedrängt worden wäre.