40 Jahre sind vergangen, seit
Bernard Hinault als letzter Franzose die
Tour de France gewann. Heute spricht der fünfmalige Gesamtsieger offen und kritisch über die schwachen Leistungen seiner Landsleute bei der Grand Tour – und die fehlende Aussicht auf künftige Siege.
„Sie haben keine Ergebnisse und vor allem keine Chance, die Tour zu gewinnen. Es ist eine schreckliche Beobachtung, aber es ist unvermeidlich: Es gibt keine großen Champions mehr in Frankreich, die die Tour gewinnen können“, sagt Hinault in einem Interview mit L’Équipe. Er vermisst den nötigen Kampfgeist und sieht, dass sich viele Franzosen mit bescheidenen Zielen zufriedengeben. „Sich zu beschweren ist ein Zeichen von Schwäche. Es hätte sie motivieren müssen, mir zu zeigen, dass ich falsch lag. Seit Jahren habe ich nicht mehr diesen Eindruck, wenn ich höre, wie die Franzosen zu Beginn der Tour ihr Ziel ankündigen: einen Platz unter den ersten 10 im Endklassement. Der vierte Platz von Gaudu 2022 wurde so behandelt, als hätte er fast gewonnen. Das hat ihm nicht geholfen, sich weiter nach oben zu orientieren, denn in Frankreich hatte er schon fast alle Ehrungen erhalten, die einem Sieger normalerweise zuteilwerden.“
"Es gibt schönere Rennen"
Hinault sieht einen Wandel im internationalen Radsport, der die französische Dominanz bröckeln lässt. Immer mehr Nationen – auch kleinere – investieren und fördern Talente, während Frankreich derzeit kaum Fahrer mit Grand-Tour-Potenzial vorweisen kann. „Wer zwingt sie, die Tour de France zu fahren? Es gibt schönere Rennen, die man gewinnen kann“, meint Hinault. Er nennt Julian Alaphilippe als Beispiel – ein Fahrer, der sich bewusst nicht nur auf die Tour fokussiert hat. „Wir haben sehr leistungsstarke Fahrer, die Klassiker gewinnen können. Warum sollte er eine Top-10-Platzierung bei der Tour anstreben, während jeder diese Aufzählung sofort wieder vergisst?“
Die jungen Hoffnungen wie der 18-jährige Paul Seixas stoßen zwar auf großes Interesse, doch Hinault mahnt zur Vorsicht und Geduld: „Er soll erst einmal die Tour de l’Avenir gewinnen. Es ist schwierig, die Reife des heutigen Champions einzuschätzen. Es war sehr nett, ihn dieses Jahr das Critérium du Dauphiné fahren zu lassen. Ich wüsste nicht, warum er nächstes Jahr nicht an der Tour teilnehmen sollte. Er wird 19 Jahre alt sein und kann dort alles lernen.“
Hinault warnt Pogacar
Auch über
Tadej Pogacar, der mit seinen fünf Tour-Siegen in Rekordnähe ist, äußert Hinault sich ausführlich. Er zeigt großen Respekt für den Slowenen, der trotz aller Erfolge Mensch bleibt. „Er ist nicht weit davon entfernt. Er ist sehr beeindruckend. Ich höre hier und da, dass es langweilig wird, ihn so oft gewinnen zu sehen, aber es ist nicht seine Schuld, dass andere ihn nicht von seinem Sockel stoßen können, oder? Wenn man sich Pogacar anschaut, ist er fünf Mal bei der Tour gefahren und hat drei gewonnen, aber auch zwei verloren. Er kennt beide Erfahrungen. Das Schwierigste ist, sich neu zu konzentrieren und mit dem Gedanken zu beginnen, die Tour zu gewinnen. Aber er geht auch mit dem Gedanken in die Tour, drei Wochen lang Rennen zu fahren, und da finde ich mich ein wenig in ihm wieder. Ich hatte auch das Gefühl, Spaß zu haben und nicht zu arbeiten.“
Hinault warnt aber auch vor den Risiken, die an der Spitze lauern: „Er könnte genauso gut zusammenbrechen und einen Rückschlag von seinem Erfolg erleiden. Er hat absolutes Selbstvertrauen und zeigt nicht die geringsten Ermüdungserscheinungen, aber diese Art, an der Spitze zu bleiben, macht ihn auch anfällig. Wir haben schon viele gesehen, die dem Burnout zum Opfer gefallen sind.“
Das Urteil des legendären Franzosen ist deutlich – er fordert neue, echte Champions aus der Heimat, die den großen Traum von einem Tour-Sieg wieder möglich machen.