Tony Martin analysiert Tadej Pogacars Zeitfahrstärke: „Wo ein klassischer Zeitfahrer ermüdet an den Start geht, ist er immer noch frisch“

Radsport
durch Nic Gayer
Mittwoch, 09 Juli 2025 um 15:05
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Rouen war Schauplatz eines packenden Radsporttages, der Radsportfans in ganz Europa den Atem raubte. In der neuesten Ausgabe des "Sportschau Tourfunk"-Podcasts resümierten Host Moritz Casalette und seine Experten Florian Naß, Fabian Wegmann, Holger Gerska und Michael Ostermann die vierte Etappe der Tour de France 2025. Im Mittelpunkt: das spektakuläre Duell zwischen Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard – ergänzt durch Stimmen der Fahrer selbst und Einschätzungen von Ex-Zeitfahr-Weltmeister Tony Martin.

Früher Start in ein spannendes Finale

Florian Naß, langjähriger ARD-Kommentator, gab einen persönlichen Eindruck der Strecke: "Es war wirklich genial. Du kannst dich vorbereiten, aber der persönliche Eindruck ist ein anderer." Bereits 130 Kilometer vor dem Ziel hatte er sich ein Bild von der Etappe gemacht, die durch grüne Landschaften führte und sich zunehmend zuspitzte: "Du ahntest, da passiert heute etwas Besonderes."

Pogacar zündet den Turbo – und Vingegaard antwortet

Fabian Wegmann war sich nach der Streckenbesichtigung sicher: "Pogacar kommt allein an." Als Pogacar im letzten Anstieg attackierte, schien sich das zu bewahrheiten. Wegmann: "Als Vingegaard nicht folgen konnte, dachte ich: Jetzt ist die Tour vielleicht schon vorbei." Doch der Däne fand zurück ins Rennen. "Er konnte dieses ganz Explosive nicht mitgehen, ist dann aber souverän wieder hingefahren."
Michael Ostermann analysierte die entscheidenden Meter im Zielbereich: "In der zweiten Wand hat Pogacar attackiert, und Vingegaard war sofort da. Er hat dann den Fehler gemacht, sich einmal umzusehen – das hat ihn kurzzeitig aus dem Rhythmus gebracht." Dennoch zeigte Vingegaard eine beeindruckende Reaktion: "Er war wieder dran. Beide sind auf Augenhöhe."

Taktische Finesse und das Spiel der Teams

Die Etappe war nicht nur ein Showdown zwischen zwei Favoriten, sondern auch ein Kräftemessen der Teams. Wegmann lobte das UAE Team Emirates - XRG: "Sie haben das Tempo erhöht, als es in die Berge ging, und das Zepter übernommen." Beeindruckt zeigte er sich aber auch von Visma - Lease a Bike: "Sie haben das Tempo übernommen, wollten UAE übertölpeln. Hat natürlich nicht funktioniert, weil Pogacar das einfach nicht interessiert hat."
Beide Top-Fahrer hatten starke Unterstützung: Joao Almeida führte Pogacar bis zum Schluss, bei Vingegaard war es Matteo Jorgenson, der mit Attacken versuchte, das Feld zu sprengen. "Da fehlte dann ein bisschen der Punch," so Wegmann, "aber beide Teams haben heute auf Augenhöhe agiert."

"Es gibt keinen unbekannten Dritten"

Holger Gerska brachte es auf den Punkt: "Es gibt nicht den großen unbekannten Dritten." Auch Fabian Wegmann sah das Duell klar zwischen Pogacar und Vingegaard verortet: "Die anderen, so stark sie auch sind, haben aktuell keine Chance." Selbst herausragende Fahrer wie Grégoire oder die Träger des Weißen Trikots blieben im Schatten.
Florian Naß zeigte Mitgefühl mit den Franzosen, die mit Kampfgeist auffielen, aber am Ende leer ausgingen: "Sie bestimmen das Rennen mit, gestalten es mit, aber irgendwie bleibt gar nichts übrig." Auch die goldene Startnummer sei nur ein schwacher Trost. "Das ist schade, weil sie es verdient hätten."

Jonas Vingegaard: "I can be happy"

Die Podcast-Folge bot auch Einblicke in das Geschehen an der Strecken - beispielsweise durch Interview-Ausschnitte mit den Topstars. Im Ziel sprach Jonas Vingegaard über die Strapazen der Etappe: „Es war ein brutales Finale mit den Anstiegen am Ende, und ich meine, ich kann zufrieden sein mit meinem Gefühl, meiner Leistung und der des Teams. Bei einem Sprint wie diesem kann ich mit Platz drei durchaus zufrieden sein. Natürlich war ich heute näher dran am zweiten Platz, deshalb ist es schade, dass ich ihn nicht holen konnte.“

Etappendesign mit Raffinesse

Großes Lob ging an die Streckenplaner. "Ich glaube, diese Etappe zu planen hat am meisten Zeit gebraucht," sagte Wegmann. Viele Richtungswechsel, enge Altstadtpassagen, vielfaches Anfahren auf das Ziel: "Man hat dreimal das Ziel gesehen und musste doch wieder irgendwo lang."
Naß bestätigte: "So viele Polizisten wie heute habe ich selten gesehen. Ich dachte schon, der Staatspräsident kommt." Die Absperrungen, Reinigungsmaschinen, Parkverbote – all das sei ein logistisches Meisterwerk gewesen.

Deutsche Fahrer im Schatten der Giganten

Florian Lipowitz verlor rund eine Minute auf die Spitze. "Ich hatte heute nicht den Kampf um die Position," sagte er selbstkritisch. "Ich glaube, ich habe zu viele Kräfte verschwendet, um Lücken zuzufahren." Wegmann sah die Probleme ähnlich: "Er war einfach zu weit hinten. Das holst du nicht mehr auf."
Michael Ostermann ergänzte: "Er hatte auch noch einen Platten kurz vor Schluss."
Auch Emanuel Buchmann konnte nicht überzeugen. "Die Position war das Problem. Wenn man an Position 45 liegt, denkt man, man kommt noch ran – aber da geht nichts mehr." Wegmann: "Solche Erfahrungen muss man machen."

BORA – mit Traktoren, aber ohne Zugkraft?

Im Gespräch über die deutschen Fahrer rückte auch das Team Red Bull - BORA - hansgrohe in den Fokus der Diskussion – genauer gesagt dessen Aufstellung und taktische Ausrichtung. Holger Gerska stellte dabei die entscheidende Frage: „Fehlt dem Team vielleicht jemand, der Roglic und Lipowitz in Position fahren kann und dann rausgeht?“ Die Beobachtung: Gerade in hektischen Finallagen mangele es nicht an physischer Stärke, sondern an strategischer Führung auf der Straße.
Fabian Wegmann bestätigte die Analyse. Zwar sei die Mannschaft mit kräftigen Fahrertypen – sogenannten „Traktoren“ – aufgestellt worden, die auf flachem Terrain und bei Wind eine wichtige Rolle spielten. Doch im Positionskampf vor entscheidenden Anstiegen sei das schlicht zu wenig. „Für die Position fehlt natürlich jemand – aber der Fahrer muss das auch können. Und du brauchst da Vertrauen“, so Wegmann. Ein Anfahrer müsse nicht nur physisch durchsetzungsfähig sein, sondern auch das Vertrauen des Kapitäns genießen – eine Dynamik, die sich nicht erzwingen lasse.
Namentlich brachte Gerska Fahrer wie Lennard Kämna, Maxim Van Gils oder Viktor Campenaerts ins Spiel – Letzterer hatte an diesem Tag eindrucksvoll unter Beweis gestellt, wie man einen Kapitän vorne hält. „Das hat Campenaerts heute perfekt gemacht“, lobte Wegmann anerkennend. Bei BORA hingegen fehlte genau dieser Fahrertyp im Aufgebot.
Dass ein unerfahrener Fahrer wie Florian Lipowitz Schwierigkeiten im Positionskampf hatte, sei somit nicht überraschend. „Sowas muss man lernen“, sagte Wegmann, „aber das funktioniert eben nicht ohne den richtigen Helfer zur Seite.“ Für Roglic, der sich in dieser Tour auffallend entspannt und wenig verbissen zeigt, könnte dieser strukturelle Mangel im Teamaufbau in späteren Etappen zum echten Nachteil werden.

Blick voraus: Das Zeitfahren steht bevor

Die Vorschau auf das Zeitfahren dominiert die zweite Hälfte des Podcasts. Pogacar: „Morgen ist der wahre Härtetest.“ Vingegaard: „Alles kann passieren. Es könnten genauso gut Evenepoel oder Pogacar sein, die ein richtig starkes Zeitfahren abliefern.“
Tony Martin, vierfacher Weltmeister und Olympia-Silbermedaillengewinner, gab im Podcast eine ausführliche Einschätzung:
"Remco Evenepoel hat eine enorme mentale Stärke. Er steht als Weltmeister am Start und weiß: Ich bin der Beste. Das verleiht Flügel." Martin betonte: "Die Kombination aus Power und Aerodynamik ist entscheidend. Auf flachen Kursen hat er da Vorteile."

Tony Martin über Pogacar, Vingegaard und das Phänomen Zeitfahren

Tadej Pogacar sei zwar kein klassischer Zeitfahrer, aber einer, der durch seine Rennbelastung gestärkt werde: "Die schaffen es, die Vorbelastung besser zu verkraften. Wo ein klassischer Zeitfahrer ermüdet, ist Pogacar immer noch frisch."
Martin betonte, dass der Kurs für klassische Spezialisten zugeschnitten sei. "Trotzdem trau ich Pogacar sehr viel zu."
Was den Start betrifft, sprach Martin über die Faszination der Startrampe: "Die Atmosphäre ist gewaltig. Man rollt hoch, wird angekündigt, tausende Fans kreischen – das ist ein Gänsehautmoment."
Doch das birgt auch Gefahren: "Man denkt, man ist Superman, aber nach sieben Minuten ist der weg. Wer da überpacet, zahlt später den Preis."
Als vierfacher Weltmeister im Einzelzeitfahren gilt Tony Martin als absoluter Experte im Kampf gegen die Uhr
Als vierfacher Weltmeister im Einzelzeitfahren gilt Tony Martin als absoluter Experte im Kampf gegen die Uhr

Fabian Wegmann und der Wandel des Zeitfahrens

Fabian Wegmann reflektierte seine eigene Karriere: "Früher hieß es: Hauptsache Aerodynamik. Heute würde ich vieles anders machen." Er habe früher versucht, immer tiefer zu sitzen, verlor dadurch aber an Power: "Ich konnte diese Position nie optimal nutzen."
Moderne Fahrer wie Pogacar oder Vingegaard sitzen heute aufrechter. "Das wäre mir entgegengekommen."

Die Wissenschaft der Wattzahlen

Martin: "Man hat einen Power-Meter, kennt die Zielwerte für 33 Kilometer und muss eiserne Disziplin wahren. Die Kunst liegt darin, konstant zu bleiben und im richtigen Moment noch zuzulegen."
Wegmann ergänzt: "Das schlimmste ist überpacen. Ich habe das oft gemacht."
Ein Schwenk in die Historie darf nicht fehlen: Florian Naß erinnerte an Tony Martins Etappensieg 2011 in Grenoble: „Ich kann mich gut erinnern“, sagte der langjährige ARD-Kommentator mit hörbarer Wärme in der Stimme. Damals war es die vorletzte Etappe der Tour, ein 42 Kilometer langes Einzelzeitfahren, in dem Martin die Konkurrenz deklassierte.
„Er war schon früh im Ziel und wartete dann mit uns auf Cadel Evans, der damals das Gelbe Trikot holen sollte“, erzählte Naß. „Das waren am Ende sieben Sekunden Unterschied – wir lagen uns in den Armen.“ Der Moment sei nicht nur sportlich, sondern auch menschlich besonders gewesen. „Sport ist auch Emotionalität“, betonte Naß.
Holger Gerska ergänzte: „Er war damals bei uns – das war wirklich bewegend.“ Martins Sieg markierte nicht nur einen Meilenstein seiner Karriere, sondern auch einen Gänsehautmoment für alle, die ihn begleiteten. Ein Kindheitstraum war in Erfüllung gegangen.

Das Duell geht in die nächste Runde

Zurück in die Gegenwart: Die vierte Etappe hat gezeigt - Pogacar und Vingegaard fahren in einer eigenen Liga. Doch mit Remco Evenepoel drängt sich ein dritter Name ins Rampenlicht. Wer morgen im Kampf gegen die Uhr triumphiert, könnte im Kampf um Gelb die Weichen stellen.
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