„Heimlich hofften wir, sie verliert“ – Marlen Reusser kritisiert Pauline Ferrand-Prevots drastische Gewichts-Taktiken bei der Tour Femmes 2025

Radsport
Dienstag, 12 August 2025 um 21:30
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Marlen Reusser nimmt selten ein Blatt vor den Mund. Die Schweizer Zeitfahr-Spezialistin und ausgebildete Ärztin gilt seit Jahren als Stimme der Vernunft und des Nachdenkens im Profi-Peloton – doch ihre jüngsten Aussagen über den Sieg von Pauline Ferrand-Prevot bei der Tour de France Femmes 2025 schlagen Wellen, die weit über Team-Busse und Siegerpodeste hinausreichen.
„Insgeheim hofften wir, dass sie keinen Erfolg haben würde“, räumte Reusser im Gespräch mit dem Tages-Anzeiger ein – mit Blick auf Ferrand-Prevots dominanten, aber umstrittenen Triumph. Für sie geht es nicht nur um Leistung, sondern um die Botschaft, die damit an die nächste Fahrergeneration gesendet wird – und was das für die langfristige Gesundheit und Nachhaltigkeit des Frauen-Pelotons bedeutet.
Auf dem Papier war Ferrand-Prévots Triumph eine Geschichte wie aus dem Bilderbuch: Nach Jahren im Mountainbike-Bereich kehrte die Französin auf die Straße zurück, gewann Paris–Roubaix und nun endlich den historischen Tour-Titel, auf den ihre Nation seit vier Jahrzehnten gewartet hatte. Doch ihre Rückkehr hatte einen Preis – oder genauer gesagt: ein kalkuliertes Abspecken. Ferrand-Prevot isolierte sich in Andorra, verzichtete monatelang auf Rennen und folgte einem strengen Diätplan, durch den sie rund vier Kilo verlor – fast 10 % ihres Körpergewichts.
Für Reusser und andere im Peloton ist das kein Randaspekt. Es ist ein Warnsignal.

Neuer Standard - und neuer Druck

„Ferrand-Prevot hat einen neuen Maßstab gesetzt“, bewertet Reusser. „Wenn Fahrerinnen so erfolgreich werden, indem sie extrem dünn sind, erzeugt das Druck auf uns alle.“
Dieser Druck wird durch die Sichtbarkeit von Ferrand-Prévots Transformation noch verstärkt. Von ihren Hautfaltenmessungen vor dem Frühstück bis zu ihrem augenscheinlichen Stolz, ein Renntrikot zu tragen, das jetzt locker sitzt – die Bilder sind schwer zu ignorieren, besonders für junge Fahrerinnen, die nachrücken. Reussers eigene junge Teamkollegin soll sie gefragt haben: „Hast du gesehen? Sie misst ihre Hautfalten, bevor sie entscheidet, ob sie isst.“
Es geht nicht nur um den Weg einer einzelnen Fahrerin, sondern um die Wellen, die das durch einen Sport schlägt, der mit seiner Geschichte von Essstörungen, RED-S (Relative Energy Deficiency in Sport) und Körperbildproblemen kämpft. Im Männerpeloton scheinen Lektionen gelernt: Ernährungsstrategien haben sich verändert, Fahrer wie Tadej Pogacar werden nicht für magere Körper gefeiert, sondern für ausgewogenes, kraftvolles Rennfahren.
Im Frauenpeloton hingegen deuten die Zeichen auf einen gefährlichen Rückschritt hin.
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Ferrand-Prevot beendete das lange Warten auf einen französischen Maillot Jaune-Sieger

Das Gewicht als Erfolgs

Ferrand-Prevots Gewichtsverlust war kein Zufall, sondern Strategie. Und obwohl die Taktik Wirkung zeigte – sie war in den Bergen konkurrenzlos –, löste sie bei Konkurrentinnen wie Reusser Alarm aus. „Als Athletin bewundere ich sie. Als Ärztin macht mir das Sorgen“, sagte sie und betonte die Spannung zwischen Leistungsoptimierung und langfristiger Gesundheit. „Ist es wirklich harmlos, wenn das Defizit nur kurzfristig ist? Wo zieht man die Grenze zwischen klugem Leistungsmanagement und Schaden?“
Reusser verweist auf klinische Warnzeichen: Hormonstörungen, Immunschwächen, psychische Probleme. RED-S ist keine Theorie, sondern Realität – und sie ist im Peloton. Wenn Gewinnen mit extremem Gewichtsverlust verbunden wird, ist das nicht mehr nur persönliche Strategie. Es wird zum Maßstab, zum Vorbild, auch wenn ungewollt.
Und dann ist da noch die Symbolik: Ferrand-Prévots schlankere Gestalt, das zu große Trikot, die öffentlichen Gewichtskontrollen – all das wird leicht so interpretiert, dass Erfolg mit Dünnsein gleichgesetzt wird. Diese Botschaft, warnt Reusser, gewinnt noch an Gewicht, wenn der Präsident von Frankreich persönlich zum Sieg gratuliert.

Ein geteiltes Peloton?

Trotz ihrer Bewunderung für Ferrand-Prévots Talent ist Reusser nicht die Einzige, die sich unwohl fühlt. Auch Demi Vollering, Zweite bei der Tour, äußerte sich deutlich: „Ich bin nicht dafür gebaut, die leichteste Fahrerin im Peloton zu sein. Und ich werde meinen Körper nicht dazu zwingen, etwas zu werden, das er nicht ist.“ Ihre Botschaft an junge Fahrerinnen: „Passt auf euch auf. Stellt Fragen. Vertraut eurem Körper.“
Das Peloton ist vielleicht nicht offen gespalten, aber die Spannung ist spürbar. Die Fahrerinnen beobachten genau – und wägen nicht nur Gramm, sondern auch die Konsequenzen ab.
Es ist erwähnenswert, dass Ferrand-Prévot angekündigt hat, nach der Tour zu ihrem Normalgewicht zurückkehren zu wollen. Sollte das stimmen, spricht das für eine bewusste Periodisierung statt einer langfristigen Veränderung. Doch selbst temporäre Maßnahmen haben Einfluss. Und in einem Sport, der von Daten, Marginalgewinnen und Modellen dominiert wird, wird das Sichtbare zum Vorbild – besonders, wenn es Rennen gewinnt.

Regulierung oder Verantwortung?

Reusser kennt das Thema gut. Vor Jahren forderte sie die UCI auf, Mindestwerte für den Körperfettanteil einzuführen – eine Schutzmaßnahme gegen genau solchen Druck. Ihre Appelle blieben unbeantwortet. Jetzt, da Gewicht und Gesundheit wieder im Fokus stehen, fordert sie die Radsportwelt – Medien eingeschlossen – auf, dieses Thema mit großer Sorgfalt zu behandeln. „Wir arbeiten seit Jahren daran, Aufklärung gegen Essstörungen zu leisten“, sagt sie. „Aber was soll eine 17-Jährige ohne Ernährungsberaterin daraus mitnehmen, wenn so ein Körperideal gefeiert wird?“
Das ist die Frage, der sich der Sport jetzt stellen muss. Denn Radsport ist längst keine private Konkurrenz unter Profis mehr, sondern eine globale, sichtbare und einflussreiche Kultur – in der Erfolgsgeschichten sofort hochgespielt werden und die feine Grenze zwischen Hingabe und Risiko vor den Augen eines großen Publikums beschritten wird.
Für Reusser geht es darum, Ehrgeiz mit Integrität zu verbinden. Sie bleibt ihrem Weg treu – kämpft um Siege auf ihre Art und mit intakter Gesundheit. Und mit Blick auf die Tour 2026 hat sie nicht vor, still in den Hintergrund zu treten. Doch während sich der Sport weiterentwickelt und die Ansprüche wachsen, steigt auch die Notwendigkeit für eine ehrliche Auseinandersetzung. Nicht nur darüber, wie Rennen gewonnen werden – sondern zu welchem Preis.
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